: Same procedure as every Saturday
■ „Ziehung der Lotto-Zahlen“, Sonnabend, ARD, 21 Uhr 45
Wir waren aufgeregt wie selten zuvor. Die Jubiläumssendung 25 Jahre Lotto-Ziehung im Ersten sollte ein Schmuckstück unserer Fernseherinnerungen werden. Die sauren Gurken standen parat. Endlich erklang die Auftaktmusik, wir rückten uns im Sessel zurecht.
Und dann war doch alles ganz anders, erstmal. Ein nervöser Fritze eröffnete die „erste öffentliche Ziehung“ aus dem Kurhaus in Wiesbaden und lobte die „billige Sendung mit den riesigen Einschaltquoten“. Und wahrlich, auch heute abend waren es wieder zehn Millionen, die draußen vor ihren Bildschirmen dabei waren, um die Gesamtausschüttung von 55 Millionen DM mitzuerleben.
Endlich kam Karin Tietze-Ludwig zum Zuge, auch heute wieder sehr ansehnlich im beigen Kleid mit ihrem makellosen und aufmunterndem Lächeln. Hallo, ihr da draußen, ihr nervösen Kugelschreiberkauer, ihr schicksalsergebenen Sofahocker, willkommen! Toll, daß ihr euch wieder eure Nieten abholt. Der Beurkundungsbeamte erklärte, daß „alles stimmt“, und dann ging es los. Zum 1.305. Mal.
Michaelas Hand krampfte sich um die Sessellehne, mein Mund war trocken vor plötzlicher Erregung. Sieben Zahlen lagen uns vor. Noch drehten sie sich in der mahlenden Kugel des „Ziehungsgerätes“, noch waren all die herrlichen Visionen wahr... ein Ferienhaus bei Malmö, eine Yacht in der Bucht von Acapulco, ein gesichertes Studium für unsere Tochter, eine monatelange Kneipentour durch Neukölln...
Dann fiel die 20 und Michaela zog hörbar den Atem ein. Die weiche Begleitmusik Happy Time vom Orchester Günther Behr konnte meinen Schmerz nicht einlullen. Wie so oft begann ich, Karin Tietze-Ludwig mit aller Kraft zu hassen, wie sie da (außerhalb des Bildes) stand und lächelte. Und dann beiläufig den rechten Fuß auf einen unsichtbaren Hebel setzte, so daß die 11 fiel. Der armselige Tischtennisball klapperte in die Röhre, und meine Träume schrumpften auf ein armseliges Niveau. Und dann dieses fiese Grinsen von Michaela, die zärtlich ihren Lotto-Schein wiegte. Als die dritte Kugel fiel, die 34, gefror auch ihre Miene. Und ich dachte an all meine Verliererfreunde da draußen, dieses ungeheure Heer von wöchentlich und lebenslang Übertölpelten. Die 39 und 24 waren die gewohnten Nackenschläge für uns alle.
Vielleicht saß irgendwo bei Kempten ein älterer Mann am Fernseher, eine verhuschte Existenz, nie eine Ausbildung gehabt, unstete Jobs, aber ein jahrzehntelang verbissen Glaubender und Pilger zur Lotto-Annahmestelle. Bei der sechsten Kugel, der 9, beginnt sein Herz zu rasen, der kalte Schweiß steht ihm auf der Stirn. Und Karin Tietze-Ludwig legt zum letzten Mal den Hebel um und schickt ein maliziöses Lächeln in die Kamera.
Tja, Freunde, wieder verloren, im 25.Jahr der Lotto -Ziehung, wie gewöhnlich, Ausnahmen bestätigen die Regel.
Olga O'Groschen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen