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ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Musik zur Zeit des großen Sterbens

VON CHRISTOPH WAGNER

Der französische Historiker Georges Duby - ein Experte für die Geschichte der Mentalitäten des Mittelalters - sieht in ihm die Schlüsselfigur einer neuaufkeimenden weltlichen Kultur im Herbst des Mittelalters, die den Gegensatz zwischen Frömmigkeit und Genuß aufhob: Jean Duc de Berry (1340-1416), Sohn König Johannes‘ II. von Frankreich, war ein Hedonist von hohen Gnaden, der neben einem Faible für erlesenen Luxus wie Teppiche, Juwelen, Porzellan und Bestecke einen ausgeprägten Hang zu den schönen Künsten (Musik und Malerei) hatte, ganz zu schweigen von seiner Schwäche für kostbare Bücher. Das berühmteste Buch seiner Sammlung (und eine der schönsten Handschriften des europäischen Mittelalters überhaupt) ist Tres riches Heures, besser bekannt als Das Stundenbuch des Herzogs von Berry - ein mit Miniaturmalereien reich ausgeschmücktes Gebetbuch für Laien mit Texten zu jeder einzelnen Stunde des Tages, das beides war: Ort der Frömmigkeit und der Kunst.

Aus derselben Epoche stammt ein musikalisches Dokument von ähnlicher Bedeutung: Der Codex Chantilly, eine ebenfalls künstlerisch gestaltete - Kompositionssammlung mit über hundert Stücken im Liedstil aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Bei diesem Manuskript handelt es sich um die zentrale Handschrift der „ars subtilior“ - so betitelt von der Musikwissenschaftlerin Ursula Günther -, der raffinierten Kompositionskunst weltlicher Prägung, wie sie (verfeinert bis verkünstelt) aus der „ars nova“ eines Guillaume de Machaut hervorgegangen war. Die Lieder, die in diesem Kompendium der höfischen Kammermusik des späten 14. Jahrhunderts zusammengetragen sind, wurden von Musikern geschrieben, die an den Höfen des französischen Adels sowie der hohen Geistlichkeit ihr Brot verdienten. Manche sind anonym geblieben, von einigen ist nur der Name bekannt (Pierre de Molins, Grimace), während wiederum andere, wie Solange und Jean Vaillant, in den Diensten des Herzogs von Berry standen oder beim späteren Papst Benedict XIII. angestellt waren - so der Harfenist Pedro de Luna, der Hauptmeister der „ars subtilior“.

Auf zwei Platten ist diese seltene Musik des ausklingenden Mittelalters zu hören - in sehr unterschiedlicher Auslegung allerdings. Marcel Peres und sein Ensemble Organum aus Paris lehnen sich mit ihrer vokalen Interpretation an die Aufführungspraxis der italienischen Musik des 15.Jahrhunderts an, während das Ensemble P.A.N. hervorgegangen aus der Schola Cantorum Basiliensis - eher einer Präsentation zuneigt, wie sie im Frankreich des ausgehenden 14.Jahrhunderts gepflegt wurde, als nur die mit Text versehene Oberstimmenmelodie gesungen wurde, während die Unterstimmen eine instrumentale Ausgestaltung erfuhren mit Laute und Vielle, der mittelalterlichen Fiedel.

Jenseits ihrer unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen erweisen sich die Musiker beider Gruppen als exzellente Kenner dieser schwierigen Materie. In beeindruckender Manier gelingt es ihnen, die feinen Stimmungsnuancen der verschiedenen Lieder bis ins Detail auszuleuchten, wobei ihre ausgefeilte Stimm- und Instrumentalkunst dem Raffinement dieser subtilen Klänge in nichts nachsteht.

Dabei läßt das Ensemble P.A.N. durch sein dezentes Musizieren eine Atmosphäre der gedämpften Zurückhaltung entstehen, wogegen die Formation von Marcel Peres einen Ton anschlägt, der weit bestimmter, ja manchmal fast forsch ist. Es fällt schwer, diese süßen, kunstvollen Töne zusammenzudenken mit der Epoche, in der sie entstanden sind: der Zeit des großen Sterbens, als die Pest - der schwarze Tod - in Europa umging und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, daß sie glaubten, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt: „die ganze Welt (läge) in der Hand des Bösen“.

Diskographie:

Ensemble P.A.N. - Ars Magis Subtiliter/Secular Music of the Chantilly Codex; New Albion Records NA 021 CD (Bezug: Inspyration, Wülfingstr. 10, 4320 Hattingen)

Marcel Peres/Ensemble Organum - Codex Chantilly/Airs de Cour du XIVe Siecle; Harmonia Mundi France, HMC 901252. MUSIK ZUR ZEIT DES GROSSEN STERBENS

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