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Mehr Freiräume, weniger Zensuren für Ostberliner Kids

■ In Ost-Berlin begann gestern das neue Schulzeitalter / 18.431 Abc-Schützen eingeschult / Lehrpläne „entideologisiert“ und „weiße Flecken“ im Geschichtsunterricht getilgt / Erste Waldorfschule eröffnet / Keine Zensuren in den ersten Klassen / Auch für Lehrlinge begann das neue Ausbildungsjahr

Berlin. Bereits am Sonnabend kündeten knallbunte Stoffranzen und überquellende „Donald-Duck„-Schultüten von der neuen Ära, die 1990/91 für Sechs- bis Sechzehnjährige Ostberliner heranbricht. Neben den 18.431 Abc-Schützen, die an diesem Tag eingeschult wurden, begann am Montag auch für die Älteren ein völlig neues Schulzeitalter. Nach Angaben von Bildungsstadtrat Dieter Pavlik (SPD) wurden Lehrpläne „entideologisiert und neue Leitungsstrukturen geschaffen“, Pädagogen haben mehr Freiräume, Tabuthemen und „weiße Flecken“ sollen der Vergangenheit angehören.

Zum großen Teil lernen die insgesamt 166.543 Ostberliner Schüler mit neuem Material, das, so Pavlik, den „veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung trägt“. Neue Bücher wurden von westdeutschen Schulbuchverlagen geschickt oder von den 30 Millionen gekauft, die der Bundestag zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt hatte.

Neu ist auch der Beginn sogenannter Schulversuche im Ostteil der Stadt. So öffnete in der Dresdener Straße in Berlin-Mitte für 153 Kinder die erste Waldorfschule ihre Pforten. Außerdem sollen in nächster Zeit - wie an der 41. Oberschule in Lichtenberg - mehr behinderte Kinder in Schulen integriert werden. Senat und Magistrat arbeiten derzeit in 13 Arbeitsgruppen an der Zusammenführung des Berliner Bildungswesens. Nach Ansicht von Pavlik wird dieser Anpassungsprozeß drei bis fünf Jahre dauern. Nach den Gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember werde zudem ein neues Schulgesetz erarbeitet.

Die durchschnittliche Klassenfrequenz liegt bei den Ostberliner Schulanfängern in diesem Jahr bei 23,4, wobei der Bezirk Hohenschönhausen mit 25,2 die meisten und Weißensee mit nur 19,1 die wenigsten Schüler pro Klasse hat.

Eine weitere Neuigkeit: Für die Jüngsten sind Zensuren in den ersten Klassen nunmehr passe, was sicherlich dazu beiträgt, Enttäuschungen zu vermeiden und die Freude am Lernen zu steigern.

Damit diese Freude ungetrübt bleibt, hat kürzlich Oberbürgermeister Tino Schwierzina alle Berliner Autofahrer angesichts der dramatisch gestiegenen Zahl der Verkehrsunfälle in der Stadt und des sprunghaften Anstieges von Kraftfahrzeugen um Rücksicht gebeten. Motorisierte sollten daran denken, daß die Abc-Schützen derzeit einer noch nie dagewesenen Verkehrslawine von mehr als einer Million Fahrzeugen ungeschützt gegenüberstehen.

Auch für die Ostberliner Lehrlinge fiel am Montag der Startschuß für das Ausbildungsjahr 1990/91, das ebenfalls von vielen Neuheiten geprägt ist. Eine davon bereitet den Jugendlichen allerdings Sorgen: Viele Betriebe in Ost-Berlin und im Umland kündigen derzeit die Lehrverträge, rund 1.500 Lehrlinge sind davon betroffen. Dagegen gibt es im Westteil der Stadt noch rund 2.000 freie Lehrstellen. Vor allem Gärtner, Bäcker, Maler und Lackierer, Friseure, Arzthelfer sowie Verkäufer im Nahrungsmittelbereich werden gesucht, überlaufen sind die kaufmännischen Berufe.

adn

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