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Susan Sontags Wort zum Montag

■ Es gibt Sonntage, da will ich nicht..

...Ihnen das grade gehörte Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein- oder tiefreden, da will ich mich auch nicht über das kirchliche playback mokieren, (vorne steht der Pastor und bewegt die Lippen, zu hören ist aber einzig und allein meine Stimme). Es gibt Sonntage, da ist Kirche so mausetot wie die Gottesdienste für das Häuflein Alter und Taufwilliger, mit denen sie ihr kirchensteuerlich verewigtes Leben nach dem Tode fristet. An einem solchen Sonntag schreib ich Ihnen lieber ab, wo unsere jüdisch-christliche Tradition sich rumtreibt, wenn sie nicht mehr zur Kirche geht. Aus einem Aufsatz, den eine kluge Frau 1962 über Cesare Pavese verfaßt hat, den italienischen Schriftsteller, der sich 1950 als Zweiundvierzigjähriger das Leben nahm, nachdem er seine Tagebücher mit Reflexionen über den Selbstmord und das erotische Versagen gefüllt hatte. (utaz)

„Wie vor ihm Stendhal entdeckt Pavese, daß die Liebe eine absolute Fiktion ist.(...) Was man für die Bindung an einen anderen Menschen hält, entlarvt sich als neuer Tanz des einsamen Ich. (...) Die Liebe stirbt, weil ihre Geburt ein Irrtum war. Dieser Irrtum ist jedoch unvermeidlich, solange man die Welt, um Paveses Worte zu gebrauchen - als einen „Dschungel des Eigennutzes“ betrachtet. Das isolierte Ich leidet endlos, „weil das Leben Schmerz ist und die genossene Liebe ein Anästhetikum“...)

Seit seinen Anfängen (Paulus) ist das Christentum die romantische Religion. Der Kult der Liebe in der westlichen Welt ist ein Aspekt des Kults des Leidens - des Leidens als des höchsten Zeichens der Ernsthaftigkeit (das Paradigma des Kreuzes). Wenn die alten Hebräer und Griechen und Orientalen der Liebe nicht den gleichen Wert beimessen wie wir, so deshalb, weil bei ihnen das Leiden nicht den gleichen positiven Wert hat. Für sie war Leiden das Kennzeichen der Ernsthaftigkeit; sie pflegten die Ernsthaftigkeit eines Menschen gerade an seiner Fähigkeit zu messen, die Strafe des Leidens zu umgehen oder zu überwinden, an seiner Fähigkeit, den Zustand einer inneren Ruhe und eines inneren Gleichgewichts zu erlangen. Im Gegensatz dazu werden in der Erlebnisweise, die wir ererbt haben, Geistigkeit und Ernsthaftigkeit gleichgesetzt mit Unruhe, Leiden, Passion. Seit zweitausend Jahren gilt bei Christen und Juden das Leiden als das Zeichen geistiger Modernität. Daher ist es nicht die Liebe, die wir überbewerten: Wir überschätzen das Leiden - den Wert und Nutzen des Leidens.

Der Beitrag der Moderne zu dieser christlichen Vorstellung besteht in der Entdeckung, daß die Schaffung von Kunstwerken und das Wagnis der sexuellen Liebe die beiden reinsten Quellen des Leidens sind.“ Aus: Susan Sonntag, Der Künstler als exemplarisch Leidender

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