: Erinnerung an den Nazi-Terror in Lettland
■ Im noch andauernden Prozeß vor dem Münsteraner Landgericht gegen den 86jährigen Boleslavs Maikovskis geht es um die lettischen Helfer der deutschen SS / Fast 50 Jahre nach der Tat sorgte der Zeuge Brokans dafür, daß der nationalsozialistische Terror nicht im Prozeßalltag als Nebensache untergeht
Aus Münster Walter Jakobs
„Als wir in den Bergen ankamen, sahen wir zurerst Blutspuren. Dann sahen wir einen Haufen von Erschossen. Die Toten, Frauen, Kinder und alte Männer, waren fast nackt. Ihre Gesichter entstellt.“ Es ist still im großen Saal des Landgerichts von Münster, als der 70jährige Jergenij Brokans am 7.September 1990 die Ereignisse vom 3. und 4.Januar 1942 in der Umgebung der lettischen Kreisstadt Rezekne (Rositten) schildert.
Brokans, damals nach eigenen Angaben wegen seiner „atheistischen Gesinnung“ politischer Häftling, wurde in der Nacht zum 4.Januar zusammen mit 30 Leidensgenossen aus dem Gefängnis von Rezekne geholt und - mit Spaten und Brecheisen ausgerüstet - in die nahegelegenen Ancupani-Berge getrieben. Dort mußten die Männer eine Grube ausheben: die Grabstätte für 170 Frauen, Kinder und Greise, die auf Befehl der deutschen Besatzer von einem lettischen Polizeikommando am Abend zuvor im Wald erschossen worden waren.
Alle Ermordeten lebten in dem nahegelegenen Dorf Audrini. „Als man die Toten später in die Grube warf, habe ich einen Schuß gehört. Unter all den Leichen lag eine Frau, so sagten mir Mithäftlinge, die überlebt hat. Sie flehte um ihr Leben und rief nach einem Verantwortlichen. Dann ist ein Aufseher gekommen und hat auch sie erschossen.“
Die Erinnerung des Zeugen Jergenij Brokans durchbricht endlich die Prozeßroutine, die Schilderung ergreift die ZuschauerInnen und holt - anders als das sich über Wochen hinziehende trockene Verlesen von Protokollen - den Terror jener Zeit, die Schrecken und Leiden nach fast 50 Jahren in den Gerichtssaal zurück.
Ohne jede äußerliche Regung des Angeklagten
Boleslavs Maikovskis, unter anderem wegen Beteiligung an der Ermordung der Bewohner von Audrini angeklagt, verfolgt die Zeugenaussage ohne jede äußerliche Regung. Der für seine 86 Jahre äußerst vital wirkende Mann, gegen den seit Anfang des Jahres verhandelt wird, hört konzentriert zu, macht sich wie immer seine Notizen. Maikovskis bestreitet, an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein.
Der damalige Hauptmann und Vorsteher im 2.Polizeirevier von Rezekne war 1965 in Abwesenheit von einem sowjetischen Gericht in Riga zum Tode verurteilt worden. Diesen Prozeß, in dem Maikovskis von ehemaligen Kollegen schwer belastet worden war, bezeichnet der in Untersuchungshaft sitzende Angeklagte als einen „stalinistischen Schauprozeß“ mit bewußt falschen Zeugenaussagen und vom sowjetischem KGB getürkten Dokumenten. Eine Verteidigungstrategie, die möglicherweise Sinn macht - die wichtigsten Zeugen von damals sind inzwischen verstorben -, die aber dem Prozeß von Riga keineswegs gerecht wird. Selbst der stramm konservative Regensburger Professor Friedrich Schroeder, ein Kenner der sowjetischen Strafjustiz, erläuterte in Münster vor Gericht, daß die typischen Merkmale solcher Schauprozesse für das Rigaer Verfahren von 1965 nicht zuträfen.
Man spürt, wie diese pauschale Verdächtigung der falschen Zeugenaussage Jergenij Brokans trifft. Vom Gerichtsvorsitzenden Hanno Badewitz danach befragt, ob von sowjetischen Stellen Druck ausgeübt worden sei, bestimmte Leute zu belasten, erklärt der 70jährige mit erregter Stimme: „Nie hat man mich auf irgendeine Weise zu beeinflussen versucht, und ich wäre auch nie darauf eingegangen.“ Nicht nur sein Verhalten im Zeugenstand, sondern auch die von ihm präsentierten Fakten, die er ohne jede Spur einer Belastungstendenz vortrug, legen beredtes Zeugnis für die Glaubwürdigkeit und Integrität des Zeugen ab.
Auch wenn damit noch nicht die Glaubwürdigkeit der weiteren 15 Zeugen erwiesen ist, die allesamt vom Gericht in Lettland selbst gehört worden sind oder bei einer zweiten Reise dorthin noch gehört werden müssen, könnte sich die Taktik des Angeklagten, alle belastende Aussagen als vom KGB inszenierte hinzustellen, für den Prozeß als Eigentor erweisen. Das Bild jedenfalls, das der Angeklagte im Zusammenhang mit der Ausrottung der gesamten Bevölkerung von Audrini von sich selbst zeichnet, wirkt unstimmig und will mit seiner tatsächlichen Stellung und Verantwortung als Polizeioffizier so gar nicht zusammenpassen.
Was geschah in Audrini? Am 18.Dezember 1941 wurde der Chef der Polizei des etwa 200 Einwohner zählenden Dorfes vermutlich von Partisanen erschossen. Boleslavs Maikovskis, als Hauptmann der lettischen Hilfspolizei und Vorsteher des 2.Polizeireviers in der Kreisstadt Rezekne auch zuständig für Audrini, nahm sich mit einem kleinen Polizeitrupp der Sache an. Bei der Verfolgung der Partisanengruppe wurden während einer Schießerei drei weitere lettische Polizeibeamte getötet.
Daraufhin erging vom Kommandeur der Sicherheitspolizei in Lettland, unterzeichnet vom SS-Obersturmbannführer Eduard Strauch, der auf 6.000 Plakaten verkündete Befehl, daß das Dorf Audrini dem Erdboden gleichzumachen sei, alle Einwohner festzunehmen und „30 männliche Einwohner am 4.1.1942 auf dem Marktplatz in Rositten (Rezekne) öffentlich“ zu erschießen seien.
Alle anderen Dorfbewohner waren schon ermordet
Was der deutsche SS-Offizier Strauch, der in Nürnberger 1948 zum Tode verurteilt wurde, in bezug auf Audrini tatsächlich befahl, steht in der Ereignismeldung Nr. 163 der Einsatzgruppe der SS-Sicherheitspolizei: „Auf Anordnung des Kommandanten der Sicherheitspolizei wurden 61 Männer, 88 Frauen und 51 Kinder erschossen.“
Als die 30 Männer von Audrini am Sonntag des 4.Januar 1942 auf dem Marktplatz von Rezekne im Kugelhagel des Hinrichtungskommandos starben, waren alle anderen Dorfbewohner schon tot, am Abend zuvor in den Ancupani -Bergen ermordet.
Es sei der inzwischen verstorbene Chef der Kreispolizei in Rezekne, Eichelis, gewesen, der ihm den Befehl erteilt habe, das Dorf Audrini niederzubrennen und seine Bewohner aus Rache zu erschießen, erklärte Boleslavs Maikovskis in Münster vor Gericht. „Ich habe mich völlig entsetzt gezeigt“, schilderte der Angeklagte seine Reaktion. „Obwohl mir die Todesstrafe drohte, habe ich mich geweigert.“ Ein anderer Polizeioffizier sei mit der Befehlsausführung betraut worden.
Diese Aussage überraschte nicht nur den Ankläger, Oberstaatsanwalt Klaus Schacht von der Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen in Dortmund. Denn bei allen früheren Vernehmungen hatte Maikovskis die Befehlverweigerung nie erwähnt. Auch seine Frau Janena erinnerte sich erstmals im Zeugenstand in Münster an die heldenhafte Befehlsvereigerung ihres Mannes. Daß sie dieses wichtige Detail bei früheren Vernehmungen nicht mitgeteilt habe, sei ihrer damaligen Aufregung geschuldet, lautete ihre Erklärung.
Zu der Befehlsververweigerung gar nicht passen will zudem eine Auszeichnung, die Maikovskis „für die ordentliche Erledigung von Amtspflichten“ im Jahr 1943 bekommen hat. Auf die Frage, ob er nach der Befehlsverweigerung noch ausgezeichnet worden sei, antwortete der Angeklagte kurz und lapidar: „Ja, warum nicht.“ Dagegen steht die Aussage von mehreren, inzwischen verstorbenen Polizisten seines 2.Reviers in Rezekne, die in dem Rigaer Prozeß 1965 bezeugten, Maikovskis habe das Niederbrennen des Dorfes Audrini organisiert und die Ermordung der Frauen, Kinder und Greise in den Ancupani-Bergen sei von ihm maßgeblich geleitet worden.
Angeblich reine Phantasieprodukte des Geheimdienstes KGB
Für Maikovskis sind das „fabrizierte Aussagen“, reine „Phantasieprodukte des KGB“. Auch der zweite Anklagepunkt, die Ermordung des jüdischen Bürgers Falk Brosch am 2.Mai 1942, beruht nach Meinung des Angeklagten auf „erstunkenen und erlogenen“ Zeugenaussagen. Ein ehemaliger Untergebener des Angeklagten hatte im Rigaer Prozeß erklärt, daß Falk Brosch, den die Polizei in einem Dorf nahe von Rezekne in einem Heuschober aufgestöbert hatte, von Maikovskis eigenhändig aufgehängt worden sei.
Zu diesem Mord gibt es ein von Maikovskis unterschriebenes Polizeiprotokoll, in dem das Erhängen von Falk Brosch als „Vollstreckung eines Todesurteils an einem Juden“ bezeichnet wird. Maikovskis erkannte zwar seine Unterschrift wieder, bezweifelt aber, den Bericht geschrieben zu haben, denn da „stehen sehr viel Unrichtigkeiten“ drin. Aufklärung über die von der Verteidigung geäußerten Zweifel an der Echtheit des Originaldokuments erhofft sich das Gericht von einer Untersuchung durch das Bundeskriminalamt.
In solch mühsamer Beweissicherung droht der eigentliche Kern des Verfahrens, die Dimension des Terrors, immer wieder verloren zu gehen. Zwischen 1941 und 1944 wurden in Lettland mindestens 80.000 lettische und 50.000 nach Lettland verschleppte deutsche und tschechische Juden von der deutschen Polizei, gelegentlich auch von Einheiten der Wehrmacht und von ihren einheimischen Helfern ermordet. Zu diesem Massenmord fanden in der Bundesrepublik kaum mehr als zehn Prozesse statt. Warum?
Deutsche Nachkriegsnormalität
Man muß die ehemaligen SS-Größen, die in Münster als Zeugen auftraten, erlebt haben, und die Frage beantwortet sich von selbst. Zum Beispiel Günter Tabbert, ehemaliger SS -Obersturmbannfüher und 1942 Leiter der SS -Sicherheitspolizei im lettischen Daugavpils (Dünaburg), der sich mit seinem Zeugenauftritt in Münster um die Aufklärung über die gigantische Verdrängungsleistung im Nachkriegsdeutschland unfreiwillig verdient gemacht hat. Tabbert, der den Sprung vom Kriminalpolizisten zum SS -Offizier und - nach 1945 - wieder zum Kriminalhauptkommissar in Duisburg und Düsseldorf - wie die meisten seiner alten Kameraden - ohne jede Blessur schaffte, räsonierte im Zeugenstand über die Ungnade der frühen Geburt, denn „ein paar Jahre später, und ich wäre in all die Geschichten nicht verstrickt worden“.
Zum Bild der deutschen Nachkriegsnormalität paßt, daß SS -Mann Tabbert 1968/69 in einem Prozeß vor dem Dortmunder Landgericht freigesprochen wurde. Als Zeuge erinnert er sich immer dann genau, wenn es lettische Polizisten waren, die schossen. Tabbert räumt zwar ein, den Befehl seines Chefs, Strauch, zur öffentlichen Hinrichtung der 30 männlichen Audrini-Bewohner an den lettischen Polizeichef von Rezekne weitergegeben zu haben, aber von dem Massenmord in den Ancupani-Bergen - ebenfalls von Strauch befohlen - will er nichts gehört haben. Im Gegenteil: Tabbert äußert in leicht empörter Tonlage sogar „große Zweifel, ob es eine solche Erschießung gegeben hat“.
In solchen Momenten wünscht man sich in Münster einen deutschen SS-Mann statt des 86jährigen Letten Maikovskis auf die Anklagebank. Historisch unzweifelhaft ist gleichwohl, daß es nach dem - von vielen Letten zunächst als Befreiung von sowjetischer Besatzung empfundenen - deutschen Einmarsch einen eigenen lettischen Anteil an dem faschistischen Terror gegen Juden und Kommunisten gab.
In Lettland selbst wird, zum Beispiel in der Wochenzeitung der lettischen Volksfront, 'Atmoda‘, der Maikovskis Prozeß zum Anlaß genommen, vorsichig die „weißen Flecken“ in der eigenen Geschichtsschreibung anzusprechen.
Im Kalten Krieg wenig Interesse an Aufklärung
Die Verbrechen, derentwegen Maikovskis in Münster jetzt vor Gericht steht, sind spätestens seit 1965 im Westen bekannt. Daß es nicht früher zum Prozeß gekommen ist, liegt an der amerikanischen und deutschen Justiz, die angesichts des Kalten Krieges an einer frühen Aufklärung wenig Interesse zeigte. Nach Kriegsende studierte Maikovskis zunächst an der neugegründeten Universität in Hamburg Rechtswissenschaften, bevor er 1951 in die USA auswanderte. Weil er gegenüber der amerikanischen Einwanderungsbehörde verschwiegen hat, Polizist gewesen zu sein, begannen in den 60er Jahren Ermittlungen, die aber bald wieder eingestellt wurden. Die Prozedur wiederholte sich, als durch den Rigaer Prozeß der von Maikovskis bis dahin verschwiegene Offiziersrang bekannt wurde.
Bis 1987 führte Maikovskis, in vielen lettischen Exilorganisationen aktiv, ein bürgerliches Leben in Mineola im Bundesstaat New York. Weil ihm nach einer Verfügung des amerikanischen Justizministerium die Abschiebung in die Sowjetunion drohte, setzte er sich - ausgestattet mit einem bundesdeutschen Visum - 1987 ins westfälische Münster ab.
Elliot Welles, ehemaliger KZ-Häftling in Lettland und Direktor der Abteilung „Nationalsozialistische Gewaltverbrechen“ in der amerikanischen „Anti-Defamation -League“ in New-York, spürte ihn ein Jahr später in der westfälischen Stadt auf, die wegen ihre starken lettischen Gemeinde auch schon mal als „heimliche Hauptstadt Lettlands“ bezeichnet wird. Kurz darauf erfolgte die Verhaftung des Exil-Letten.
Für Winni Nachtwei, Geschichtslehrer und örtlicher Politiker der Grünen, war der Prozeß gegen Maikovskis willkommender Anlaß, sich erneut auf die Spurensuche der Menschenvernichtung zu begeben. Nachtwei recherchiert nämlich seit Jahren die Vernichtung der Münsteraner Juden, die von den Nazis in großer Zahl in das Ghetto von Riga verschleppt und dann umgebracht wurden. Wie kein anderer sorgt der Geschichtslehrer, der im Sommer dieses Jahres die Stätten des Grauens in Lettland zum zweiten Mal besucht hat, dafür, daß sich das Prozeßgeschehen in Münster nicht völlig unbeachtet vollzieht.
Um die Erinnerung an den faschistischen Terror wachzuhalten, gibt Nachtwei Dia-Vorträge, organisiert Prozeßbesuche von Schulklassen und steht interessierten Journalisten quasi als lebendes Archiv zur Verfügung. Im Verlauf seiner Recherchen stieß er auf eine weitere münsteranisch-lettische Verbindungslinie: Das Panzerbataillon 194 in Münster-Handorf sieht sich in der Tradition des westfälischen Panzerregiments 11 (6.Panzerdivision) der Wehrmacht. Dieses Regiment stieß im Rahmen der 18. Armee 1941 durch Litauen und Lettland bis nach Leningrad vor.
Es trug dazu bei, so Winni Nachtwei, „daß die Bahn frei wurde für die unmittelbar nachrückende SS-Truppe“ zu der der später hingerichtete SD-Chef Strauch ebenso gehörte, wie der „Ehrenmann“ Tabbert. Nachtwei hat dem Chef des Panzerbataillons 194 angeboten, einen Dia-Vortrag über die Judenpogrome im Baltikum zu halten, die ohne die Wehrmacht dort ebensowenig möglich gewesen wären, wie in allen anderen von deutschen Soldaten überfallenen Ländern. Der Bataillonschef nahm das Angebot an.
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