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Flügel aus dem Moor

■ Lidy von Lüttwitz' Skulpturen im Verborgenen Museum

Was wie ein Totempfahl der westeuropäischen Materialwelt aussieht, nannte die Bildhauerin Lidy von Lüttwitz Relief. Es ist eine flache, aus Holz gearbeitete Skulptur, etwa anderthalb Meter hoch, die auf einem U-förmigen Gipselement steht. Aus dem Holz sind organische Körperformen gehauen. Ein Element ist mit dem unter ihm liegenden verbunden, wird vom darunterliegenden getragen, ohne daß ein Aufbau vom größeren zum kleineren oder vom stärkeren zum schwächeren Element stattfindet. Die kopfähnliche Form ist eher in der Mitte, die armähnliche Form darüber. Die zarten Pastellfarben sind ebenfalls so gewählt, daß kein Element das andere dominiert.

Während die Namen der Arbeiten sonst fast ausschließlich abstrakten Zusammenhängen entnommen sind, wie die Titel Spaltung, Einsicht oder Loslösung schon zeigen, hat sie sich bei Relief auf die Form bezogen, denn diese Arbeit ist nur von drei Seiten gearbeitet. Im Kontext der Ausstellung wirkt dieser Titel wie eine Entschuldigung. Gerade so, als müßte die Begrenzung, die durch die unbearbeitete vierte Seite entsteht, erklärt werden. Tatsächlich nämlich besitzen die Arbeiten von Lidy von Lüttwitz eine so große Dynamik, daß sie den Raum, in dem sie stehen, eher größer als kleiner werden lassen. Die Figuren breiten sich aus und beziehen die Leere des Raumes mit ein. Arme, die sich ausstrecken, Körper, die sich spalten oder verdoppeln, »aus dem Moor« geborene Flügel, die sich ausbreiten, stehen dicht beieinander. Die Skulpturen aus Holz und Stein sind teils figürlich, teils abstrakt. Sie mischt die beiden Ansätze beliebig und vermischt auch verschiedene Dimensionen der Wahrnehmung in den Skulpturen. Aus einem gegebenen Materialsockel aus Buchenholz winden sich in einzelnen Ästen eine grünlich getönte Körperfigur mit Kopf, eine rosafarbene Hand, die viel größer ist als die Körperfigur, und eine violett getönte Schlange. Die Austreibung heißt diese über einen Meter große Arbeit.

Die Bewegung, aus der heraus die Skulpturen gearbeitet sind, ist die gleiche Bewegung wie die, mit der sich sprießender Samen durch eine geteerte Straße bohrt. Die Arbeitsweise der 88jährigen Künstlerin fördert diese Dynamik. Sie macht sich kein Konzept, sondern sucht sich Material und beginnt dann, daran zu arbeiten. Dabei läßt sie sich vom Material führen, nicht von vorgegebenen Ideen. Die Berliner Kunstpreisträgerin, die seit ihrer Kindheit fast taub ist, hat sich in ihren frühen Arbeiten an Lehmbruck orientiert, später jedoch ihren eigenen Arbeitsstil in der Synthese von Figürlichem und Abstraktem gefunden.

Das Verborgene Museum, eigentlich viel zu klein für so große Skulpturen, jedoch aufgrund der Dynamik der Arbeiten scheinbar plötzlich viel größer, zeigt Lidy von Lüttwitz noch bis zum 21. Oktober. Waltraud Schwab

Lidy von Lüttwitz, Skulpturen. Im Verborgenen Museum, Schlüterstraße 70, Berlin 12. Di. und Mi. von 12 bis 17, Fr. von 15 bis 19, Sa. und So. von 12 bis 16 Uhr.

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