Die kavalleristischen Spätfolgen

■ Das Archiv »Krieg 1914« in der Staatsbibliothek kann nicht besichtigt werden

Generalstabsoffiziere joggen nicht. Sie reiten. Und das selbst dann noch, wenn die PS-Zahlen, mit denen sie es spätestens seit 1918 zu tun haben, ins kavalleristische rückübersetzt, ganze Reithallen füllen würden. Für die letzten preußischen Offiziere, die des OKH (Oberkommando des Heeres), Sitz: Bendlerstraße, gibt es deswegen bei Temperaturen, die selbst einem gestandenen Soldaten den Ausritt in den benachbarten Tiergarten unmöglich machen, eine Reithalle. Länge: 100 Meter, Breite: etwa 50 Meter, gelegen am nördlichen Flügel des Bendlerblocks, allgemein bekannt als Gedenkstätte des deutschen Widerstands, direkt unterhalb des »Casinos im Bendlerblock« — warmes Essen von 12 bis 14 Uhr.

Nachdem auf Grund ebenso berühmter wie bislang nur in groben Zügen bekannter Ereignisse dort keine Offiziere mehr verkehren, mußte eine andere Verwendung für das nun brachliegende Gelände einer Reithalle gefunden werden. Und was lag näher als die Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Gedanke, statt Federbüschen und karmesinroter Streifen den leeren Raum mit dem Grau in Grau von Druckerzeugnissen zu bevölkern. Seit einigen Jahren lagert also die Staatsbibliothek dort einen Bestand von rund 540.000 Bänden ein.

Darunter befinden sich etwa 30.000 Druckerzeugnisse, die von der ersten bis zur letzten Seite von nichts Geringerem künden als dem Ende jeglicher kavalleristischer Herrlichkeit. Die Reithalle des OKH ist nämlich die vorerst letzte Ruhestätte eines historischen Wesens mit der Signatur: »Krieg 1914«. Die Eröffnung dieses Krieges hörte auf den Plan Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffens, dem ersten, dem ein Plan genügte, um militärischen Ruhm zu erwerben. Der Plan war bereits 1905 nach jahrelanger Vorarbeit fertiggestellt worden. Im gleichen Jahr ereilte seinen Verfasser beim Morgenritt im Tiergarten das Schicksal des Kavalleristen: Das Pferd eines »vorbeigaloppierenden Leutnants« zertrümmert ihm das Schienbein. Der General nimmt bald darauf seinen Abschied. Trotzdem setzt sein Plan nicht ganz zehn Jahre später »Millionenheere« in Bewegung.

Zeitgleich und absolut synchron setzt »eine gesonderte Offensivaktion neben dem Waffengang« ein: Bewältigung des »gewaltigen papiernen Trommelfeuers«, das dieser Krieg entfesseln wird. In der königlichen Staatsbibliothek Berlin wird bereits im August 1914 eine eigene Sammlung »Krieg 1914« (open end) eröffnet, »eine Bibliothek für sich mit fast allen Wissenschaften«. Es ist diese Bibliothek, die vom ersten wissenschaftlch durchorganisierten Krieg des 20. Jahrhunderts übrigbleibt, und sie ist es auch, die statt der vom Ersten Weltkrieg erledigten Kavallerie in der Reithalle im Bendlerblock ihre letzte Ruhestaätte gefunden hat.

Heimatgrüße, Flugblätter, Lazarettzeitungen, Fliegerabwürfe (davon gab es im Mai 1918 insgesamt 84.000, im Juni 1918 120.000 und im Juli 1918 300.000 Stück), Greuelpropaganda, gefälschte Brotkartenhefte, Bücher, dick oder als Dünndruckausgabe, 10*7,5 Zentimeter, für den Abwurf aus dem Flugzeug, Romane, »Kampfwerke« (Ludendorff), Hetzschriften, Zeitungsausschnitte — aus 200 Zeitungen 500 Ausschnitte in 900 Mappen — unterirdische Drucksachen, Firmenzeitungen für die Front, 20.000 Kriegspostkarten, 1.700 Lautplatten aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, Tausende Plakate, Bandkatalog, Zettelkatalog, systematischer Katalog, Schlagwortkatalog und ungeahnte Ordnungsprobleme — das alles beschäftigt vier Jahre lang und länger (bis 1939, als bereits ein neues Archiv — das des nächsten Krieges — gebildet ist) einen Stab von 19 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, tagaus, tagein bemüht, einem modernen Krieg mit alphabetischen Ordnungen beizukommen. Das Ergebnis 1939: 35.066 Nummern, 67 Katalogkästen, 60.000 Katalogzettel.

Nach dem Angriff auf die Trägermaterien (erster Bombenangriff auf die Staatsbibliothek: 9. April 1941) wird die Sammlung den restlichen 3.000.352 Bänden der Staatsbibliothek einverleibt und in alle Himmelsrichtungen verfrachtet, in »lebenden Ketten von Hand zu Hand gereicht«, aus Kellern geholt und in Waggons verladen, bald »ohne jede Ordnung und Übersicht« mehr als drei Millionen Bände »für ungewisse Zeit in Bücherhaufen verwandelt«, mitunter waggonweise vergessen auf irgendeinem Güterbahnhof. Aus der russischen Besatzungszone von der amerikanischen Armee entführt, Umleitung über Offenbach, April 1946 dann wieder Berlin. Endstation: Reitstall des OKH, Bendlerstraße, Stauffenbergstraße. Grabesstille.

Denn während gegenwärtig in bunten Glasvitrinen, bei exzellenter Beleuchtung und wohliger Wärme auf kunstgewerblichen Grund und Boden, in direkter Nachbarschaft zu einer Topographie des Terrors »ein Zeitalter besichtigt werden darf« (Dr. Stölzl, DHM, über die Bismarck-Ausstellung), fällt ein paar hundert Meter weiter, bei den alphabetischen Resten eines unter Verschluß gehaltenen Zeitalters, die Besichtigung aus. Bodenschaden. Das Archiv ist seit letzter Woche bis auf weiteres gesperrt. Kein Buch kommt raus, kein Mensch kommt rein. Die gesammelte kavalleristische Präsenz eines Generalstabs wog weniger als das, was er schließlich hinterlassen hat: Unter der Last von 540.000 Büchern bekam der Boden einen Riß. Nicht, als hätte normalerweise ein Sterblicher zu Werken, »wie der Weltkrieg gemacht« wurde, von Erich Ludendorff, Ludendorff Verlag GmbH, München 1937, einen handfesten Zugang gehabt. Der war vielmehr rein symbolisch: über Schlagwortkatalog, Signatur, Erscheinungsdatum, Benutzerausweisnummer, Stempel der Verleihstelle. Erst darüber kommt er zu den einzelnen Druckerzeugnisse, deren Gesamtheit er niemals ansichtig werden wird. Unter von Katastrophen nicht entstellten Umständen kommt nämlich täglich für zwei Stunden ein kleiner Stoßtrupp von Bibliotheksarbeitern in die Welt des unterirdischen Schrifttums und schleppt auf Befehl bestimmter Signaturen Bücher um die Ecke und zu den Lesern. Zumindest solange es die Temperatur zuläßt. Bei Außentemperaturen von weniger als zwölf Grad Celcius ist jeglicher symbolischer wie physischer Kontakt mit dem Archiv »Krieg 1914« unterbrochen. Aus arbeitsrechtlichen Gründen ist es untersagt, bei Temperaturen unter zwölf Grad einer bibliothekarischen Tätigkeit nachzugehen. Was Bücher zum Beispiel überhaupt nicht stört. »Sie haben am liebsten Temperaturen um die 15 Grad oder darunter«, meint der Direktor der Benutzerabteilung. Peter Bertz