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»Was soll ich machen..., ich hab' niemand mehr«

■ Porträt einer Frau, wie es sie in Berlin zu Tausenden gibt/ Krank, einsam, alle Freunde und Verwandten sind entweder weggezogen oder verstorben — und das Leben geht irgendwie weiter PORTRAIT

West-Berlin. Manche Menschen macht das Leben ganz schnell und ganz früh alt. Eigentlich hatte sich Hedwig Möller (Name geändert) alles ganz anders vorgestellt. Mit ihren 62 Jahren kann sie zwar auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken, ihre Zukunft aber erscheint ihr nur noch wie ein dunkelgraues Loch. Sie sitzt allein in ihrer Einzimmerwohnung in Wilmersdorf, ohne fremde Hilfe kann sie das Haus nicht mehr verlassen. Ihr Rücken schmerzt, und sie weiß nicht warum. Sie leidet unter Stichen »bis in den Kopf hinein«, ab und zu fährt ihr ein schmerzhaftes Reißen durch das rechte Bein: »Die Gesundheit ist wirklich ganz unten, ich bin völlig fertig.«

Damals, als junges Mädchen, war es Hedwig Möllers Traum, in einer Frauenjazzband zu spielen. Liebend gern wollte sie Saxophon und Schlagzeug lernen, doch ihr Vater, ein »strenger Mann« aus Thüringen, machte ihr einen Strich durch die Rechnung: Er zwang seine Tochter, wenn sie denn schon unbedingt Musik studieren müsse, das Spiel auf »weiblicheren« Instrumenten wie Geige und Akkordeon zu erlernen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, »so oft es ging, um die Häuser zu ziehen«. »Was denken Sie, wie ich da auffiel«, erzählt sie mit plötzlich leuchtenden Augen, »mit meiner weißen Flanellhose wurde ich ständig von Filmleuten angesprochen.«

Im Jazzkeller »Badewanne« lernte sie dann auch ihren späteren Mann kennen, »ein ganz berühmter Musiker war der damals«. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Sehkraft eines Auges schon teilweise eingebüßt — ausgerechnet ein Tag nach Ende des Krieges explodierte auf dem Hof ihres Vaters eine Handgranate, und dabei geriet ihr ein Holzsplitter ins Auge. Ihrer Attraktivität aber habe das »nur ein ganz bißchen« geschadet. Sie zeigt ein Porträtfoto von sich aus der damaligen Zeit: eine schöne junge Frau mit dunklen, halblangen, leicht gewellten Haaren, mit vollen Lippen in einem schmalen Gesicht lächelt in die Kamera. Mit der kranken, weißhaarigen Frau und ihren vielen Falten und Fältchen um Mund und Augen will sich keine Ähnlichkeit herstellen lassen.

Ihr Mann, erzählt sie weiter, habe nicht gewollt, daß sie als Musikerin arbeitet. Sie habe dann auf den Instrumenten immer seltener gespielt — »Ich habe ihn sehr geliebt, deshalb habe ich es aufgegeben« — bis sie schließlich gänzlich die Lust verlor. Über ihre Ehe mag sie nicht viel erzählen, sie zerbrach im »verflixten siebten Jahr«, wenige Jahre später starb ihr Mann an Lungenkrebs. »Ich habe ihn aber auch gar nicht mehr gesehen. Ich wollte nicht, daß es so aussieht, als liefe ich ihm nach.«

Danach habe sie dann als Sekretärin in einem Versorgungsdepot bei den Engländern gearbeitet. »Wider Willen, aber irgendwie mußte ich ja mein Geld verdienen.« Sie sei dann oft in Urlaub gefahren, nach Mallorca oder auf die Kanarischen Inseln, an Männerbekanntschaften habe es ihr nie gefehlt. »Oft waren die verheiratet, aber ich wollte selbst auch gar nicht mehr heiraten, deshalb hat es mir auch nichts ausgemacht.«

Heute jedoch ist es still geworden um Hedwig Möller. Wegen anhaltender Nervenschmerzen ging sie bereits 1985 in Frührente. Ihre Freunde sind entweder tot oder leben in einem anderen Land. Vor einem halben Jahr hörte sie von einem alten Bekannten, der in der DDR gelebt hatte. Er wollte sie besuchen, am verabredeten Tag jedoch erschien er nicht. »Ich habe dann da angerufen und erfahren, daß er zwei Tage vorher gestorben war — Herzschlag.« Bei dem Gedanken daran muß sie immer noch weinen.

Manchmal telefoniert sie noch mit einer alten Freundin, Besuch bekommt sie so gut wie nie. »Ich mag auch gar nicht auf den Balkon gehen, ich kann es nicht ertragen, all die glücklichen Menschen zu sehen.« Kürzlich hatte sie versucht, einen professionellen Hilfsdienst in Anspruch zu nehmen, »einfach, um ein bißchen Gesellschaft zu haben«. Sie sei politisch sehr interessiert, Strickmuster oder Kochrezepte interessierten sie nicht. Deshalb habe sie mit der älteren Frau, die man ihr schickte, auch nichts anfangen können. »Und diese jungen Dinger, die manchmal kommen«, erzählt sie, »sind immer nur frech.« Nur ein- oder zweimal jeweils sei jemand gekommen, dann hätte sie nichts mehr von ihnen gehört.

Schmerzhaft verzieht sich ihr Gesicht, wieder fährt ihr ein dumpfer Stich durchs Bein, die mit Ekzemen bedeckte Hand juckt unerträglich. »Was soll ich nur machen«, fragt sie, »ich habe wirklich keinen Menschen mehr.« maz

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