: Die Insel des Sozialismus will sich selbst treu bleiben:
Kuba probt einen Schleichpfad zu mehr Demokratie/ Wo gibt es das noch: Vorbereitung auf den IV. Parteikongreß/ Von allem ein bißchen mehr: Offenheit, Kritik, Autarkie und Effizienz/ Grundsätzlich wird das System nicht in Frage gestellt/ Die innere Opposition ist klein und ohne Einfluß ■ Aus Havanna Ralf Leonhard
Alberto Cardona wurde als Technikstudent in der DDR vom Zusammenbruch des Systems überrascht. Nach zweieinhalb Jahren kehrt er aus einem neuen Europa heim nach Kuba. Fidel Castro hat, verärgert über die mangelnde Standhaftigkeit der einstigen Verbündeten, alle Studenten aus den ehemaligen Bruderländern abberufen. Einige haben seinem Ruf keine Folge geleistet und sind geblieben. Sie glauben — wie fast alle in Europa —, daß es auch in ihrer Heimat bald zum großen Umbruch kommen wird. Alberto hingegen ist vorsichtig optimistisch: „Daß es hier bald ganz schwierig wird, ist klar. Aber wir müssen eine Lösung finden.“ Wie dieser Ausweg zwischen totaler Isolierung und Kapitulation gegenüber den USA aussehen soll, das weiß er auch nicht: „Das weiß momentan wahrscheinlich nicht einmal Fidel.“
Einunddreißig Jahre nach dem Sieg über das korrupte Regime des von Washington unterstützten Diktators Fulgencio Batista auf Kuba scheint der Respekt vor dem alternden Revolutionsführer ungebrochen. Selbst die meisten Kritiker bescheinigen Fidel Castro persönliche Integrität und staatsmännische Größe.
Zwar steht Kuba, ebenso wie die einstigen Verbündeten im Comecon, vor dem wirtschaftlichen Bankrott. Doch ist die Kapitulation des Systems derzeit noch nicht abzusehen. „Unsere Revolution war kein Geschenk der Roten Armee“, betont Castro immer wieder, wenn er seiner Verachtung für die abtretenenen osteuropäischen Führer Luft macht, „wir haben sie selbst erkämpft und wir werden sie selber verteidigen“. Tatsächlich sind heute in Kuba keine Auflösungserscheinungen festzustellen. Die Ruhe vor dem Sturm, die viele Korrespondenten in Havanna ausmachen wollen, ist der Alltag der Kubaner mit all seinen Frustrationen und Freuden.
Die Tanzlokale sind so voll wie eh und je, auf der Brüstung des Malecon, der malerischen Uferstraße, schmusen nachts die Pärchen in der würzigen Meeresluft. Selbst die Serie von Botschaftsbesetzungen im Juli vermochte keine Hysterie oder Massenbewegung auszlösen. Eine machtvolle Welle von Ausreisebewerbern, vergleichbar dem Exodus von 120.000 vor zehn Jahren, hätte Fidel Castro nicht aufhalten können. Doch der Rette-sich-wer-kann-Effekt blieb aus. Heute sind die Botschaften wieder für jedermann frei zugänglich, wenn sich auch die meisten Diplomaten weigern, Gruppen vorzulassen.
Dennoch sind die Optionen für Kuba sicherlich beschränkt. Nachdem die Verbündeten wie Dominosteine umgekippt sind und damit auch die wirtschaftliche Unterstützung dahinschrumpft, treiben die Revolutionäre auf einer Eisscholle, die immer kleiner wird. Genußvoll warten die Strategen in Washington darauf, daß ihnen das einst unter Eisenhower verlorengegangene Territorium bald wie eine reife Frucht in die Hände fällt. 700.000 Exilkubaner in Miami — ein Wählerpotential, das zu übergehen sich kein Präsident leisten kann — sorgen dafür, daß auch die Entspannung zwischen den Supermächten dem unbotsamen Kuba keine Verschnaufpause bringt. Während Bush und Gorbatschow sich auf die Schulter klopften und zwischen Bonn und Berlin die Übergangsmodalitäten für Kohls Imperium ausgehandelt wurden, fanden vor den Küsten Kubas die größten Militärmanöver seit der Raketenkrise vom Oktober 1962 statt, wurde ein kubanisches Fischerboot von der US-Küstenwache auf hoher See beschossen und ging in Miami mit „TV- Marti“ eine Fernsehanlage in Betrieb, die die Kubaner zur Rebellion gegen ihre Regierung anstacheln soll. Die vor 30 Jahren verhängte Wirtschaftsblockade geht heute so weit, daß selbst einem kubanischen Schachmeister, der ein internationales Turnier in den USA gewann, das Preisgeld verweigert wurde. Die Panamerikanischen Sportmeisterschaften, die nächstes Jahr in Havanna stattfinden, drohen zu einem finanziellen Flop zu werden, weil das Finanzministerium in Washington den Fernsehanstalten verboten hat, die Kubaner für die Übertragungsrechte zu bezahlen. Nach Panama und Nicaragua soll endlich auch das rebellische Kuba wieder auf Linie gebracht werden.
„Die Wahlen in Nicaragua legen die Optionen für Fidel Castro klar an den Tag: entweder er folgt dem Weg Daniel Ortegas in Nicaragua oder dem des Nicolae Ceausescu in Rumänien“, schrieb der konservative mexikanische Schriftsteller Octavio Paz nach der Wahlschlappe der Sandinisten. George Bush und die Exilkubaner in Miami machen kein Geheimnis daraus, daß sie dem Revolutionsführer ein mindestens ebenso schmähliches Ende wünschen, wie es der rumänische Diktator erlebte. Daß der sandinistische Weg der Konzessionen an den Westen, des Parteienpluralismus und international überwachter Wahlen für Kuba nicht in Frage kommt, das hat die KP-Führung hinreichend oft klargemacht. Fidel Castro verteidigt schließlich sein Lebenswerk: eine sozialistische Gesellschaft vor der Haustür der USA. Deswegen kann sich ein westeuropäischer Botschafter in Havanna auch nicht vorstellen, daß Castro so endet wie Ceausescu oder Noriega: „Wenn es zum Krieg kommt, dann stirbt er wie Salvador Allende.“
Reformkongreß soll aus der Krise führen
Doch so weit soll es gar nicht kommen. „Sie glauben, daß sie einer endgültigen und irreversiblen Krise des Sozialismus beiwohnen. Geblendet von ihrer triumphalistischen Trunkenheit glauben sie, daß Kuba, scheinbar einsam in der geographischen Nachbarschaft der Vereinigten Staaten, nicht widerstehen können wird und sich ergeben muß“, heißt es im Aufruf zum IV. Parteikongreß, der in der ersten Jahreshälfte 1991 stattfinden und Kuba aus der Krise führen soll. Es wird ein Reformkongreß werden, das ist jetzt schon klar. „Wir können nicht von der Welt erwarten, daß sie sich auf uns einstellt“, sagt Carlos Aldana, der Sekretär des Zentralkomitees und einer der Chefideologen der Partei, „deswegen müssen wir uns auf sie einstellen“.
Vor allem die Intellektuellen unter den Parteimitgliedern glauben, daß das Schicksal des sozialistischen Weges von diesem Kongreß abhängt. „Die Reformen müssen jetzt oder nie beschlossen werden“, urteilt der Mitarbeiter eines Think- Tanks der Partei. Der Mangel an Transparenz in den Parteistrukturen, Privilegienwirtschaft, Bürokratismus, Bunkermentalität und Intoleranz gegenüber Kritik haben das Vertrauen der Basis in die Führung untergraben. „Wir wollen eine offenere und demokratischere Gesellschaft schaffen“, verspricht Aldana. Der Diskussion sollen keine Grenzen gesetzt werden, gibt eine interne Anweisung an die Parteikader zu verstehen: „Wir dürfen uns nicht darüber beklagen, wenn Meinungen, die bisher unterdrückt worden sind, offen formuliert werden“, warnt ein Diskussionspapier für Parteifunktionäre. Die Presse solle einen Beitrag leisten, damit auch kritische Meinungen sich Gehör verschaffen können.
Daß die Appelle an die Presse diesmal mehr als ein Ritual sind, das alle Jahre wiederholt wird aber im Grunde am offiziösen Verlautbarungscharakter der Medien nichts verändern soll, das läßt eine Diskussion hoffen, die innerhalb der Journalistenunion UPEC begonnen hat. Niemand geringerer als UPEC-Chef Julio Garcia Luis warf vor einigen Monaten in einem Beitrag die Frage auf: „Warum ist die Presse so langweilig?“ Er forderte professionelle Strukturen, freien Zugang der Medien zu Informationen und die Freiheit, daß in der Redaktion und nicht in irgendwelchen Amtsstuben oder Parteibüros über den Inhalt der Zeitungen beschlossen werde: „Die Leiter der Wirtschaftsbetriebe oder Sozialeinrichtungen schwangen sich zu Verwaltern der Information auf, die entscheiden, was publiziert werden darf und was nicht.“ Die Grenze des Publizierbaren dürfe nur durch die höchsten Interessen der Revolution und der Partei determiniert werden.
Ähnlich lautet die Vorgabe für den IV. Parteikongreß: An den Basisprinzipien der Revolution — Sozialismus, Einheitspartei, Planwirtschaft, Internationalismus — soll nicht gerüttelt werden. Gegensätzliche Meinungen sollen zwar diskutiert aber durch Überzeugungskraft ausgeräumt werden. Selbst im gegebenen Rahmen können aber tiefgreifende Veränderungen statfinden. So spricht man in Parteikreisen von der Demokratisierung des „Poder Popular“. Bisher werden nur die Vertreter auf Bezirksebene durch Direktwahl bestellt, alle weitere Instanzen über die Delegierten. Das soll sich ändern. Gleichzeitig werden die lokalen und regionalen Behörden, die bisher reine Erfüllungsgehilfen des zentralen Apparates waren, mit tatsächlichen Kompetenzen ausgestattet werden.
Man munkelt sogar davon, daß die Partei von den staatlichen Strukturen getrennt werden soll — ein wahrlich revolutionärer Schritt, der dem lähmenden Bürokratismus zu Leibe rücken würde. Als beschlossene Sache gilt, daß in Zukunft auch praktizierende Christen in die Partei eintreten dürfen. Damit soll die Diskriminierung der relativ wenigen Gläubigen — kaum zehn Prozent der Bevölkerung — beseitigt werden. Denn für Stellen vom stellvertretenden Sektionschef im Ministerium aufwärts und vergleichbare Positionen in der Wirtschaft ist das Parteibuch unerläßlich.
Castro-Nachfolge noch nicht gelöst
Ein heikler Punkt, der auch spätestens auf dem Kongreß gelöst werden muß, ist die Nachfolge Fidel Castros. Zwar denkt der 63jährige Revolutionsführer gar nicht daran abzudanken und noch wagt es keiner, eine öffentliche Diskussion darüber loszubrechen, doch gilt es, verbindliche Mechanismen für die Wahl des künftigen Staatsoberhauptes zu schaffen. „Wenn Fidel heute stürbe, würde das Chaos ausbrechen“, fürchtet ein Soziologe. Castro, der sich bester Gesundheit erfreut und mit einem eindrucksvollen Sicherheitsapparat umgibt, hat schon zahllose Attentate überlebt. Allein die exilkubanische Terroristengruppe „Alpha 66“ brüstet sich, im letzten Jahrzehnt 26 Kommando-Operationen in Kuba unternommen zu haben, darunter mehrere von der CIA unterstützte Anschläge auf das Leben des Erzfeindes. Zwar gilt es als ausgemacht, daß Fidels jüngerer Bruder Raul, derzeit Verteidigungsminister und zweiter Vorsitzender der Partei, nachrückt, doch muß auch die Generationsablöse vorbereitet werden, wenn die Revolution ihre langfristige Perspektive bewahren will. Raul Castro, der schon jetzt zunehmend aus dem Schatten seines bärtigen Bruders rückt, gilt als dogmatischer und weniger diplomatisch als Fidel.
An Systemveränderungen nach dem Vorbild Osteuropas denken in der kubanischen KP die wenigsten. „Wir haben in der Vergangenheit zuviel kopiert, und es hat uns nicht gutgetan“, erklärt Roberto Robaina, der 34jährige Chef der kommunistischen Jugendorganisation UJC. Fidel Castro selbst verkündete im Dezember anläßlich einer Gedenkfeier für über 300 gefallene Angola-Kämpfer, daß er gegen eine Verbesserung des Sozialismus nichts einzuwenden habe: „Aber warum müssen die sogenannten Reformen in Richtung Kapitalismus marschieren?“ Den Ländern der Dritten Welt habe der Kapitalismus keinen Fortschritt gebracht: „Täglich sterben weltweit 40.000 Kinder, die gerettet werden könnten. Wegen Unterentwicklung und Armut werden sie nicht gerettet.“
Die Kubaner haben dank eines vorbildlichen und völlig unentgeltlichen Gesundheitswesens die höchste Lebenserwartung des Subkontinents und die Kindersterblichkeit liegt unter der der USA. In Kuba hat jeder zu essen, eine menschenwürdige, wenn auch in der Regel zu enge Wohnung und humane Arbeitsbedingungen. Nirgends wird das deutlicher als auf dem Lande, wo die Versorgung besser ist als in der Stadt und der Kontrast zu anderen lateinamerikanischen Ländern besonders ins Auge fällt. 95 Prozent der kubanischen Haushalte sind an das Stromnetz angeschlossen und praktisch alle haben Zugang zu Trinkwasser.
Auch Alberto Cardona, der die DDR im Umbruch erlebt hat, sieht die dortige Entwicklung nicht als vorbildhaft: „Die Deutschen sind so aufs Geld und auf den Konsum fixiert.“ Außerdem fürchtet er, daß in Kuba ein Zusammenbruch des Regimes nicht in einen europäischen Kapitalismus mit all seinen sozialen Komponenten münden würde, sondern in ein brutales sozialdarwinistisches System wie in den meisten Staaten Lateinamerikas. „Unsere Alternative ist nicht die Bundesrepublik oder Miami, sondern die Dominikanische Republik oder Zentralamerika“, sagen alle, die über etwas Weitblick verfügen. Auch mit der ideologischen Kehrtwende hat Alberto seine Schwierigkeiten: „Ich habe den Glauben an den Sozialismus nicht verloren.“
Verärgert erinnert er sich an die Diskussionen mit dem Soziologieprofessor in Leipzig, der über Nacht seine Meinung über Marx und Lenin auf den Kopf stellte und heute, ohne rot zu werden, das Gegenteil dessen lehrt, was er selbst viele Jahre lang im Unterricht vertreten hatte. Unter den kubanischen Studenten ist Osteuropa ein Dauerthema. Ende letzten Jahres gründeten vier Studenten an der Mathematikfakultät der Universität Havanna eine Partei, die Veränderungen nach dem europäischen Vorbild verfocht. „Nach ein paar Wochen haben sie sich von selbst wieder aufgelöst“, erzählt eine Professorin. „Nicht wegen Repression, sondern weil sich keiner für sie interessierte.“
Kaum Unterstützung für die Opposition
Die Opposition im Lande hat es nicht leicht. Dissidenten sind in der Regel im Ausland bekannter als in Kuba. Dafür sorgen die internationalen Presseagenturen und die Diplomaten. Doch selbst ein westlicher Botschafter schätzt die gesamte in Parteien und Menschenrechtsgruppen organisierte Opposition auf nicht mehr als 300 Personen. Gustavo Arcos ist einer der Prominentesten. Er ist genauso alt wie Fidel, mit schütterem Haar und einem missionarischen Glitzern in den Augen. In seinem Haus im Zentrum Havannas ist er selten anzutreffen: Pressetermine, Versammlungen und Botschaftsempfänge füllen seinen Terminkalender. Er hat schon 1953, beim historischen Angiff auf die Moncada- Kaserne, mitgemacht und wurde dabei sogar verletzt. In den sechziger Jahren fungierte er als Botschafter der Revolutionsregierung in Brüssel und lernte Osteuropa kennen, als in Havanna gerade der sozialistische Charakter der Revolution proklamiert wurde. Seit dieser Wende nach links, mit der er nicht einverstanden war, ist er gegen Fidel und hat inzwischen neun Jahre hinter Gittern verbracht. Arcos, der Chef des Kubanischen Komitees für die Menschenrechte (CCPDH), hat Anfang Juni zum Dialog zwischen Regierung, Exil- und interner Opposition aufgerufen. Von der Regierung in Havanna ist der Aufruf gänzlich ignoriert worden, in der Exilkubanerszene von Miami wurde er als Verrat gegeißelt. Er hält diese Position für kurzsichtig: „Wenn sich die Regierung einmal zum Dialog mit den Dissidenten an einen Tisch setzt, dann wissen wir, sie ist bereit, die Macht abzugeben.“
Herr Arcos lebt mit dem großen Handikap, daß er von der Interessenvertretung der USA (dem Botschaftsersatz) gefördert wird. „Keiner der Dissidenten ist unabhängig von den USA oder der Exilantenszene“, versichert auch ein Diplomat, bei dem die Oppositionellen aus und ein gehen. Die Zulassung von Parteien, so meinen die Regierungsfunktionäre, würde nicht die Diskussion bereichern, sondern die Schleusen für die Konterrevolution öffnen. „Ein Mehrparteiensystem wäre für uns ein Rückschritt. Wir haben das lange genug gehabt“, meint ZK-Sekretär Carlos Aldana kategorisch. Tatsächlich waren die Regierungen der pluralistischen Demokratie in Kuba korrupter als das berüchtigte Batista-Regime. Auch eine breit gefächerte Umfrage des Wochenblattes 'Bohemia‘, das sich meist früher als andere Medien an heikle Themen heranwagt, ergab, daß kaum jemand am Pluripartismus interessiert ist.
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