piwik no script img

„Mensch Du!“

■ Die Ratgebersendungen von Jugendradio DT64

In einem Westberliner Nachtcafé, findet man plötzlich einen Stapel alter Hefte: Din-A-6, blaßblaues Recyclingpapier. Das sind die Nummern 1-3 des „Streitlexikons“, Sendeprotokolle der „Ratgebersendungen von Jugendradio DT64: „Mensch Du!“ gibt es seit Sommer '89. Mitarbeiter sind Doktoren und Diplompsychologen. Die Themen der Sendung lesen sich folgendermaßen: „Mensch, Du — ich befriedige mich selbst!“, „Mensch, Du — mir fehlen bloß die Worte!“, „Mensch, Du — ich bin homosexuell!“ usw.

Im „Streitlexikon“ finden sich neben den Texten, die die Sendungen zusammenfassen, handschriftliche Säzzerbemerkungen, die fast rührend sind, wenn richtige Schreibweisen zum Beispiel mit einer versetzenden Hand falschgestellt werden: wenn aus „Masturbation“ „Mastrubation“ wird, klingt das Wortungeheuer schon ein wenig besser. Kleine Smileys zieren den Rand, Ausrufezeichen leiten die Aufmerksamkeit des Lesers, seltsame Diagramme belehren ihn. Wenn vom „Orgasmus“ die Rede ist, steht daneben „Scheiß Orgasmus“ und die SäzzerIn wird noch einmal, von einer späteren BearbeiterIn bestätigt: „Stimmt!“

In der letzten „Mensch Du“-Sendung, über Identität, erklärte der beratende Diplom-Psychologe Helmut Schlegel: „Identität heißt, die Beziehung zu etwas. Durch das ,Du‘ erkennt man sich. [...] Wenn man den anderen verliert, verliert man seine Kennung, seine Identifizierung“ und ist schmerzhaft auf das eigene Ich zurückgeworfen.

Als letzter Halt zur Identitätsbildung dient dann DT64: „Wir brauchen Euch, um unsere Identität nicht ganz zu verlieren“, hieß es in vielen Hörerbriefen. Und 13 HörerInnen aus Leipzig waren vor einer Woche für den Sender in Hungerstreik getreten.

Die Sendung über „Identität“ fand in West-Berlin statt. Zu Gast waren: die rothaarige Marianne Enzensberger, Filmerin und Musikerin und ihre Herzensfreundin, der schwarzhaarige Star aller Großstadtschwulen und sehnsüchtigen Menschen, Marianne Rosenberg.

Viele Menschen in der DDR sind verwirrt: „Wir riechen ja schon anders, benutzen andere Deos, rauchen andere Zigaretten. Wer sind wir denn nun?“, fragt sich nicht nur der Moderator. Diese Fragen würden jedoch, so meint der Psychologe, in seiner Praxis kaum besprochen werden. Die Leute versuchten stattdessen „möglichst schnell ihren Kopf leer zu machen, um das Neue aufzunehmen“. Zweifel oder Ängste würden durch die Annahme der westlicher „Sprachrituale“, die sich in Ausdrücken wie „Toll, Super, Prima, Bravo“ ausdrückten, verdrängt. Und „dann hört das Denken auf“. Viele Anrufer pflichten ihm bei. Während Marianne Rosenberg glaubt, daß Identitätsprobleme vor allem aus „Lebensangst“ entstehen würden, daß man sich nur trauen müsse, erzählt Marianne Enzensberger, daß sie ähnliche Probleme gehabt habe, als sie mit zwölf aus Rostock in die BRD verschlagen wurde. Sie habe sich damit getröstet, daß sie sich immer wieder vorgestellt hatte, zurückzugehen, „auszubüchsen“. Diese Möglichkeit, mit ihrem Heimweh fertigzuwerden, haben die DDR-Bürger jedoch nicht mehr. Das Heimweh hat keinen Ort mehr. Das einzige, was vielleicht noch bleiben wird, sind ein paar DDR-spezifische Vokabeln: „Schau“ (für „Klasse“), „Mundi“ (für Mundharmonika) oder die — in letzter Zeit häufiger in der ARD-Sportschau so genannte — „Großchance“. Detlef Kuhlbrodt

„Mensch Du“ gibt es alle 14 Tage, montags um 21.00 Uhr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen