Zu allem bereit

Auftakt in Basel: Elke Langs „Worte sind Worte, Küsse sind Küsse“ und Christof Nels Inszenierung von Shakespeares „Coriolanus“  ■ Von Jürgen Berger

Christof Nel versuchte einen der sprödesten Shakespeare-Stoffe in den Griff zu bekommen, Elke Lang gleich ein ganzes Jahrhundert: „Worte sind Worte, Küsse sind Küsse“ heißt ihr Doppelprojekt, in dem sie Marivaux' „Der Streit“ und Mussets „Man spielt nicht mit der Liebe“ konfrontiert. Elke Langs Versuch über die Unbeständigkeit der Liebe spielt in einem Park. Zu Anfang ist die Wiese saftig, der Baum strotzt in grünem Laub — eine Landschaft, so natürlich und künstlich wie die Rokoko-Welt des 18. Jahrhunderts vor ihrem jähen Ende durch die französische Revolution. Wir sind in Marivaux' Stück „Der Streit“, das wohl besser „Das Experiment“ hieße. Denn es ist, als öffnete sich die Tür eines großen Labors mit unbegrenztem Forschungsetat, in dem drei junge Paare aufeinandertreffen. Ihre Eigenart: Sie haben nie zuvor einen anderen Menschen gesehen und dienen einem Prinzen nebst Begleiterin als Versuchsobjekte. Es sol herausgefunden werden, wer denn nun die Unbeständigkeit in die Liebe bringt — Mann oder Frau.

Das Spiel beginnt, man verliebt sich, schwankt im Gefühl, wird eifersüchtig und liebt einen anderen. So weit, so gut. Aber wer ist nun schuld? Marivaux deutet eine Antwort an, die Elke Lang betont: Die naiven Neulinge verlieben sich genauso ernsthaft in das eigene Spiegelbild wie in das andere Geschlecht und wollen nicht nur geliebt, sondern auch bewundert werden. Dazu aber reicht das Gesicht eines einzigen Geliebten als Spiegel nicht aus. Das ironisch-doppelbödige Spiel huscht in Windeseile über die Basler Bühne. Nur das Bild von Inka Friedrich, eines der energisch-selbstverliebten Mädchen, bleibt haften. Dann ist das galante Jahrhundert und Marivaux' Blick auf die Inszenierung auch der intimsten Gefühlsregungen vorbei — es wird dunkel und Herbst.

Hundert Jahre später hat der Baum seine Blätter verloren, und Alfred de Mussets „Man spielt nicht mit der Liebe“ hat nichts mehr von jener doppelbödigen Leichtigkeit Marivaux'. Mussets Blick ist skeptisch, bürgerlich. Die Forschungsetats des Adels sind merklich geschrumpft, aus dem Prinzen wurde ein verarmter, dickbäuchiger Baron, den Christian Hoenig als machtlosen König Peter aus dem Reiche Popo spielt. Selbstverliebtheit und Lust, zuvor noch Ferment der Liebe, gelten als unmoralisch, aus adligem Kalkül wurde bürgerliche Kalkulation. Der verarmte Baron will sich durch die Verheiratung seines Sohnes mit der vermögenden Nichte retten. Aber ach! Die Nichte geht ins Kloster und richtet sich in einer verklemmten Absage an die Welt kommod ein.

Elke Lang präsentiert die zwei Stücke in einer Aufführungsdauer, in der manch andere Inszenierung nicht eines der Stücke über die Bühne bringen würde. Dabei huscht die Marivaux-Strichfassung wie ein zu schnell laufender Film vorbei. Eine differenziert Entwicklung einzelner Charaktere darf nicht erwartet werden, dafür trifft Elke Lang mit ihrer Konfrontation der Liebesentwürfe des Rokoko und Bürgertums einen empfindlichen Punkt unserer Zeit — die Entwürfe sind seltsam aktuell. Mickey Rourke gewährt in „9 1/2 Wochen“ als honigschleckender Westentaschen-Valmont einen Blick ins moderne Lustlabor und läßt die Prince-Kinder von enthemmter Designer-Liebe träumen, während Aids-Ängste die bürgerlich-repressive Moral des 19. Jahrhunderts wachrufen. Und Choderlos de Laclos' „Gefährliche Liebschaften“ locken die ins Kino, die insgeheim wieder auf ewige Treu und Kindersegen schwören.

Anklänge an derzeitige Turbulenzen finden sich auch in Shakespeares „Coriolanus“ — einem Stück, das in doppelter Hinsicht bemerkenswert ist: Selten hatte Shakespeare solche Mühe, seinen Figuren Leben einzuhauchen, und keines seiner Stücke reicht so in unsere Gegenwart wie der „Coriolanus“. Im Mittelpunkt stehen der sieggewohnte römische Feldherr, der hofft, daß allein die Aura des Siegers ihm zum Posten eines Volksvertreters verhilft, und das Volk. Es benimmt sich so, wie es die jüngsten deutsch-deutschen Verwirrungen bestätigen: Zu allem bereit, wenn es nur nicht weh tut und gut schmeckt.

Aber der Feldherr muß nach gewonnener Schlacht in die Niederungen des Wahlkampfes, obwohl er das Volk verachtet — das aber schlägt zurück. Landesverrat wird ihm vorgeworfen, und André Jung, dem Basler Coriolan, zerdehnt es vor lauter Verachtung die Sprache. Er steht auf der abschüssigen Fläche einer Trommel, die wie ein Meteor in die Bühne eingeschlagen hat und der eine Wolke von oben hin und wieder Kühlung zufächelt.

Regisseur Christof Nel hat das Bühnenbild zusammen mit Kay Anthony entworfen und zeigte dabei eine glücklichere Hand als in der Inszenierung der spröden Figuren. Er ist ein Könner im Arrangement von Bildern, in die er Shakespeares Personage einbaute. Sie sind isoliert und sprechen, ohne den anderen erreichen zu können — eine Folge des unterkühlten und intriganten römischen Gemeinwesens. Der Idee mag man folgen, nur sind dem Regisseur bei der Verfolgung der Idee hin und wieder die Figuren abhanden gekommen.

Bei den Feinden Roms, den Volskern, geht es derber und nicht so intrigant zu. Coriolanus läuft zu ihnen über und führt sie gegen Rom. Aber die ruhmsüchtige Mutter versöhnt ihn wieder mit den Römern, worauf ihn das Bergvolk ermordet. Einiges ist in Shakespeares spätem Drama angedeutet, das Christof Nel geschickt inszeniert: Die Männerfreundschaft zwischen Coriolan und dem Volskerführer, und daß der große Feldherr nie so recht von der Mutter loskommt. Den stärksten Eindruck hinterläßt Friedrich-Karl Praetorius als Agrippa. Der zynisch- leidende Begleiter des Heerführers wandelt zwischen den verfeindeten Welten, als sei er von einer ganz anderen.

Worte sind Worte, Küsse sind Küsse, nach Marivaux/Musset. Fassung und Regie: Elke Lang, Bühne und Kostüme: Carlo Tommasi.

William Shakespeare: Coriolanus. Regie: Christof Nel. Bühne: Christof Nel/Kay Anthony, mit André Jung (Coriolan), Urs Bihler (Titus), Friedrich-Karl Praetorius (Agrippa)