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Schweizer stimmen zum dritten Mal über Atomkraft ab

Angstkampagne der Atomlobby soll die Bürger bis Sonntag davon überzeugen, daß die Schweiz nicht auf Atomkraftwerke verzichten kann/ Im europäischen Stromverbundnetz spielt die Schweiz eine große Rolle, weil mittels Alpenseen und Wasserkraft der Atomstrom „lagerbar“ gemacht wird  ■ Aus Basel Thomas Scheuer

Ein dramatischer Schrumpfprozeß droht der ohnehin recht klein geratenen Schweiz. Diese düstere Vision malen jedenfalls die Werbefritzen der Atomlobby neuerdings an die Plakatwände der Alpenrepublik: Da steht ein Fernseher, von dem rechts ein Teil abgehackt wurde; auf der TV-Wetterkarte sind nur noch 60% der geliebten Heimat zu sehen. „Dieser Wetterprognose fehlen 40 Prozent Strom“, erläutert der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke das tragische Malheur. Für ein anderes Propagandaposter haben die aggressiven Atomiker die Axt gar an eine Lokomotive gesetzt: „Wollen Sie auf 40% des Nahverkehrs verzichten?“ fragt drohend der Bildtext.

Das 40-Prozent-Massaker droht der schweizerischen Konsumgesellschaft, so das bilderbuchhafte Horrorszenario der Stromkonzerne, falls eine Mehrheit der Stimmberechtigten am kommenden Wochenende das Kreuzchen in den falschen Kringel setzt. Denn just 40 Prozent der Elektrizität in der Schweiz stammen aus jenen fünf Atommeilern, deren Schicksal Gegenstand einer Volksabstimmung am kommenden Wochenende ist.

Schon zweimal wurden die Schweizerinnen und Schweizer in der Atomfrage an die Urnen gerufen: 1979 und 1984 wurden Anti-Atom- Initiativen jeweils knapp abgelehnt. Unter dem Schock des Tschernobyl- GAUs sammelten 1986 Umweltschützer, Sozialdemokraten, Grüne und Gewerkschafter dann in Rekordzeit die notwendigen Unterschriften für eine dritte „Volksinitiative für den Ausstieg aus der Atomenergie“. Wegen der Trägheit der Verwaltung hat die Volksinitiative erst jetzt ihr Ziel erreicht. Die drei Hauptforderungen: Es dürfen keine neuen Atomanlagen mehr gebaut werden; die bestehenden dürfen nicht erneuert werden; sie sind „so rasch als möglich“ stillzulegen.

Gleichzeitig mit dieser Ausstiegsinitiative kommt die sogenannte Moratoriumsinitiative zur Abstimmung. Die Vorlage — offizieller Titel: „Stop dem Atomkraftwerkbau“ — verlangt einen 10jährigen Baustopp für alle Atomanlagen. Mit diesem Text, der schon vor Tschernobyl ausgearbeitet worden war, sollte ursprünglich (nach dem knappen Scheitern der Initiativen von 1979 und '84) das Symbol-AKW Kaiseraugst bei Basel gestoppt werden. Inzwischen wurde Kaiseraugst jedoch von den Betreibern zurückgezogen.

Eine mögliche Urnenbestattung des helvetischen Atomprogrammes hätte über die Schweiz hinaus weitreichende Konsequenzen für das gesamte europäische Strombusineß. Schon heute sind an das europäische Stromverbundnetz 14 Länder fest angeschlossen, die gemeinsam die „Union für die Koordinierung der Erzeugung und des Transports elektrischer Energie“ (UCPTE) tragen. In der Schweiz, so der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke stolz, schlägt „das Herz des europäischen Stromverbundes“. Von der Zentrale der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg (EGL) am Oberrhein aus werden die transnationalen Stromströme ferngesteuert.

Die — im wahrsten Sinne des Wortes — herausragende Rolle in diesem Verbundnetz verdankt die Schweiz nicht nur seiner geographisch zentralen Lage, sondern vor allem einem Markenartikel des Landes — den Alpen. Die zahlreichen Stauseen in den Alpen machen nämlich das physikalisch Unmögliche möglich: Strom wird lagerbar und kann nach Belieben abgerufen werden. Die Pumpspeicherwerke in den Alpen fungieren als Atomstrom- Waschmaschinen: In Zeiten geringen Bedarfs wird mit dem überflüssigen Atomstrom das Wasser in die Stauseen hochgepumpt; bei erhöhter Nachfrage, vor allem in den sogenannten Spitzenzeiten, läßt man es je nach Bedarf in die Turbinen der Wasserkraftwerke schießen. „Stromveredelung“ nennen das die Fachleute. Denn der Tarif für Spitzenstrom liegt natürlich deutlich über den Durchschnittspreisen. Ein Beispiel: Größter Nettoimporteur von Strom ist Italien, größter Exporteur bekanntlich Frankreich. Als „Zwischenlager“ dienen die Stauseen in den Alpen. Deshalb wollen die schweizerischen Strombarone trotz erheblicher Überkapazitäten und trotz gewaltiger Exportüberschüsse dank Atomkraft immer neue gigantische Pumpspeicherwerke in die Alpen klotzen.

Das erklärt die Vehemenz, mit der die Atomlobby gegen die beiden Volksinitiativen zu Felde zieht — samt einiger fauler Tricks. Das Militärministerium etwa wollte eine Studie über „Hilfeleistung bei nuklearen und strahlenbedingten Unfällen“ bis nach der Abstimmung unter Verschluß halten. Waren die Gutachter doch zu dem Schluß gelangt, „[...] Die medizinische Versorgung der Strahlenopfer ist bei uns nicht einmal im Ansatz gewährleistet.“ Das Innenministerium hält ein Informationsblatt über „Chemie und Radioaktivität im Alltag“ zurück, weil einige Darstellungen, so die regierungsamtliche Befürchtung, „eine kritische Einstellung gegenüber der Atomkraft fördern könnten“.

Wasser auf die Mühlen der helvetischen Atomfans sprudelte dagegen unverhofft aus der jüngsten Golfkrise: Steigende Ölpreise und Energiekrisenangst könnten auch beim dritten Anlauf zum Ausstieg die entscheidenden Prozentchen kosten. Für den Fall der Fälle aber, nämlich das Aus fürs Atom, halten sich die Nukleokraten in ihrem Horrorbild vom zerhackten Fernseher vorsorglich die Option auf wenigstens eine alternative und umweltfreundliche Energiequelle offen — auf der Rest- Wetterkarte des 60-Prozent-TV- Bildschirms scheint eine freundliche Sonne über der Schweiz.

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