: Nationalhymne vertreibt Sinti
■ Sinti verließen vor der angedrohten Räumung ihren Platz am Spreebogen/ Der Senat begründet die Räumung mit Schutz vor dem Tag der Einheit
Berlin. Wenn am 3. Oktober der Reichstag unter patriotischem Volksstolz erzittert und die Nationalhymne mit großem Orchester über den Platz fegt, dann müssen Zigeuner gehen. So scheint es jedenfalls der Senat zu sehen. Den rund 150 Familien, die seit Monaten am Spreebogen ihre Wohnwagen geparkt haben, flatterte Anfang der Woche ihr Räumungstermin auf die Campingtische. Heute um 10 Uhr sollten die Sinti unter Polizeiaufsicht von dem Platz verschwinden. Um weiteren Ärger zu vermeiden, brachen die Familien jedoch schon gestern freiwillig ihre Zelte ab, um auf den Stauraum Dreilinden überzusiedeln. Der Aufbruch erfolgte anscheinend so spontan, daß einige Familien, die wegen diverser Autopannen auf dem Gelände festsitzen, über den Standort ihres neuen Domizils gar nicht Bescheid wußten. Die verbleibenden Sinti hoffen jedoch, von der heute anberaumten Räumung verschont zu bleiben.
»Es ist doch ganz offensichtlich, daß der Tag der Einheit bei der Räumung eine Rolle spielt«, erklärte ein Vertreter der Cinti-Union gestern gegenüber der taz. Vor der Welt müsse Berlin anscheinend wieder »sauber« sein. Minderheiten würden am liebsten vor die Tore der Stadt gedrängt. Schon vor einigen Monaten hatte Familiensenatorin Anne Klein den Sinti die Alternative Stauraum Dreilinden angeboten. Ein Teil der Familien und die Cinti-Union hatten diesen Standort jedoch wegen der Autobahnnähe und der abgelegenen Lage abgelehnt.
In Anne Kleins Senatsstelle bestätigte Pressesprecherin Gabriele Kämper die Feierlichkeiten als Räumungsgrund. Angesichts des Nationalfeiertags sei ein Aufenthalt der Sinti vor dem Reichstag problematisch. »Kollisionen sind zu erwarten«, erklärte Kämper. Die Sicherheit der Familien sei an diesem Ort nicht gewährleistet. Nach wie vor sei der Senat bemüht, eine Regelung für den Verbleib der Sinti zu finden. Konkrete Pläne gebe es allerdings nicht. »Wir hoffen, daß die Bezirke sich weiter damit beschäftigen.« Erzwingen könne man jedoch, so die Senatsstelle, die Bereitstellung von Aufenthaltsorten für die Sinti und Roma nicht.
Probleme mit dem Wohnort der Familien vor dem Reichstag hat auch die Senatskulturverwaltung. In einem internen Programmpapier heißt es: »Probleme sind zu befürchten durch den Wagenpark der Sinti und Roma [...], dies insbesondere dann, wenn die unmittelbar am Brandenburger Tor nicht möglichen Akte um Mitternacht (Fahnenhissung, Nationalhymne mit großem Orchester) vor den Reichstag verlegt werden müssen.«
Der Stauraum Dreilinden soll vorerst als Standort den Familien zur Verfügung stehen. Aufforstungsarbeiten, die den Stauraum begrünen sollten, sind zunächst zurückgestellt worden, verlautete aus dem Umweltbehörde. Für die Sinti ist dies jedoch nur ein schwacher Trost. Ihre Forderung: mindestens fünf feste Plätze für durchreisende Familien mit dem Niveau von normalen Campingplätzen. Christine Berger
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen