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Die sogenannte kompakte Mehrheit

■ Claus Peymanns Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" am Wiener Burgtheater

Mit Karlheinz Hackls Badearzt Thomas Stockmann muß man sympathisieren, selbst wenn man nicht all seine Absichten in dem modellhaften Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen bedingungslosem Einsatz für eine Sache und Kompromißlertum teilt. Nickelbrille und Mascherl, seine leicht zerrauften, bereits grauen Haare, sein Tweedanzug, eine Spur zu weit — die zu tief sitzende Hose muß er immer wieder hochziehen —, seine etwas unkontrollierte Körperlichkeit, die ihn seinen Mitmenschen oft ein wenig zu nahe kommen läßt, um sich dann mit dieser Nähe schwer zu tun — all dies macht ihn zu einem jener nie ganz erwachsen werdenden Intellektuellen, deren Unbedingtheit im eigentümlichen Kontrast dazu steht, daß man ihnen — beim Versuch, sie zu beschreiben — nur mit Wendungen wie „ein wenig“ und „etwas“ gerecht werden kann. Dr.Stockmann ist auch ein dem Klischee vom asketisch trockenen Fundamentalisten widersprechender Wahrheitsfanatiker.

Dieser trockene Typ ist vielmehr sein Bruder, der Bürgermeister. Wolfgang Gasser stellt hier seine an Thomas Bernhards Heldenplatz geschulte Diktion und Präzision sozusagen in den Dienst der gegnerischen, die Wahrheit vertuschenden Partei. Lodenmantel und Hut mit Gamsbart sind die optischen Signale, mit denen ein Österreich-Bezug hergestellt wird. Ansonsten wird in den Kostümen von Jörge Jara und im Bühnenbild von Xenia Hausner weder eine geographische noch eine zeitliche Konkretisierung vorgenommen. Die Szene in der Redaktion des 'Volksboten‘ etwa spielt weder zur Entstehungszeit von Ibsens Stück noch in einem modernen mit Bildschirmgeräten ausgestatteten Zeitungsbüro. Xenia Hausner schuf reduzierte Räume, ohne auf diese Reduziertheit zu verweisen, wie dies bei Zadeks Ivanov-Inszenierung geschah.

Die nach einer Übersetzung Angelika Gundlachs erstellte Textfassung von Thomas Brasch enthüllt einige Stellen, die vom Publikum dankbar auf die Situation in Österreich in der Vorwahlkampfzeit übertragen werden — womit Peymann ja durchaus kokettiert. Wenn der Redakteur des 'Volksboten‘ sagt, „die Zeitung jetzt einstellen, wo die Wahlen vor der Tür stehen, das würde ich äußerst ungern“, weiß jeder, daß damit die 'AZ‘ — jene bis vor kurzem im Besitz der Sozialistischen Partei befindliche Zeitung, die jetzt von der Einstellung bedroht ist — (nicht) gemeint ist. Hinweisen auf „Bonzen“ und „Parteiprogramme“, die „jeder Wahrheit den Hals umdrehen“, wird ebenso zugestimmt wie Stockmanns Diktum, „daß die sogenannten Freiheitlichen die schlimmsten Feinde jedes freien Mannes sind“. (Die unerträglich populistische und rechts stehende Freiheitliche Partei Österreichs droht von einer Klein- zu einer mittelgroßen Partei zu werden.)

Die Reduzierung von Literatur auf Meinung durch das Publikum ist zwar einigermaßen kurios, doch Peymanns Regie provoziert dieses Verhalten. Er nähert sich Henrik Ibsens Schauspiel Der Volksfeind ohne Vorbehalte. Er ergreift engagiert und radikal Partei, ohne ideologisch zensurierend in den Text einzugreifen. Er macht die Überzeugungen des Badearztes Thomas Stockmannganz zu den seinen.

Dies hat zwei Gründe: Zum einen teilt er wohl auch Stockmanns Ansichten, daß „der schlimmste Feind der Wahrheit und der Freiheit die sogenannte kompakte Mehrheit“ ist, und daß die Mehrheit nicht etwa die „klügsten Leute“ sind, sondern die „Idioten“; zum anderen liebt er es, das Publikum zu polarisieren. Doch was etwa mit Hochhuths Stellvertreter gelingt, gelingt mit einem elitärenVolksfeind niemals: Denn bei massenfeindlichen Äußerungen hat man die Mehrheit, die ja immer die anderen sind, stets hinter sich. (Immigranten werden ja nicht deshalb abgelehnt, weil sie eine Minderheit sind, sondern weil sie für zu viele gehalten werden. Ganz abgesehen davon, daß Stockmanns Argumente auch Ausdruck einer Naturwissenschaftlern eigenen Präpodenz sind, die jederzeit von einem Atomphysiker verwendet werden können, um gegen eine Volksbefragung über die Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks zu polemisieren.)

So kommt es im vierten Akt, in dem Stockmann vor den Bürgern der Stadt eine Rede über die Vergiftung des Wassers und des „ganzen Lebens“ hält, zur einigermaßen lächerlichen Situation, daß der auf dem Tisch stehende Karlheinz Hackl vom Bühnenpublikum ausgepfiffen und vom echten Publikum beklatscht wird. Die Polarisierung verläuft nicht mehr quer durch den Zuschauerraum, sondern findet — weil man ja ganz einer Meinung ist — augenzwinkernd zwischen Bühne und Publikum statt.

Daß Peymann auf seiten des Badearztes steht, bedeutet im übrigen auch nicht, daß er seine Gegenspieler zu lächerlichen Figuren degradiert: Ebenso wie Wolfgang Gasser können Heinz Schubert als der die Mehrheit der kleinen Besitzbürger vertretende und symbolisierende Buchdrucker sowie Markus Boysen und Roman Kaminski als ihre Druckfahnen in den Wind der öffentlichen Meinungen hängenden Journalisten, durchaus differenzierte Charaktere vorführen.

Diese Gleichwertigkeit der Protagonisten ist denn auch die Stärke von Peymanns Inszenierung. Im Gegensatz zu seinen Klassikerinszenierungen, eher so wie bei Thomas Bernhard, kommt er fast ohne Symbole und mit wenigen Requisiten aus. Beim ersten Zusammentreffen Karlheinz Hackls mit Gasser muß jener noch den Indianerschmuck und den Tomahawk der Kinder beiseite räumen, um seinem Bruder einen Sessel anbieten zu können. Daß das Kriegsbeil zwischen den ungleichen Brüdern nicht begraben ist, bleibt aber die einzig symbolische Geste der Aufführung.

Wilhelm Tells (im Verlauf des Schillerschen Dramas) frühe Einsicht, daß „der Starke am mächtigsten allein“ ist, wird für Stockmann zur finalen Erkenntnis: „Der stärkste Mann der Welt ist der, der ganz allein ist.“ Was ihnen dabei kaum auffällt, daß sie sich beide auf eine sie bedingungslos reproduzierende Familie verlassen können. Maria Bill drängt die auf den Haushalt beschränkte Ehefrau des „Volksfeindes“ nicht in den Vordergrund, sondern beläßt die blasse Figur im Schatten ihrer sozialen Rolle. Daß Stockmann ein politisch engagierter Mann ist, schützt ihn möglicherweise aber nicht davor, einmal das Schicksal von Noras Ehemann zu teilen, von dem er theoretisch ja schon gehört haben könnte — von Ibsen, vielleicht auch einmal von Peymann.

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