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Juristen — Pioniere mit blindem Fleck

Deutscher Juristentag diskutiert über Aufbau der DDR-Justiz/ „Entstasifizierung“ der Richter am Rande thematisiert/ Über schizophrene 218-Regelung kein Wort/ BRD-Juristen: „Pharisäer“?  ■ Aus München Luitgard Koch

„Wir sind arg im Verzug“, klagte die bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner (CSU) auf der Podiumsdiskussion des 58. Deutschen Juristentags in Münchens Kulturpalast. Was der bayerischen eisernen Lady solche Sorgen bereitet, ist der baldige Aufbau der Justiz auf dem Gebiet der DDR. Die Bundeswehr hat es da in ihren Augen viel leichter. „Die haben ihre Uniformen schon geliefert und ab 4. Oktober ist alles klar“, amüsierte die bayerische Justizministerin mit ihrem Vergleich die in der Münchner Philharmonie anwesenden Juristen.

Doch bevor die Diskussionsrunde — auf dem Podium saßen neben der Ministerin der Präsident des BGH (Bundesgerichtshof) Karlsruhe, Walter Odersky, sein Kollege vom Berliner Bundesverwaltungsgericht, Hans Sendler, sowie der Ministerialdirigent aus dem Bundesjustizministerium, Peter Rieß, der maßgeblich die Richtlinien für den Aufbau der Justiz im Einigungsvertrag ausgearbeitet hat, zwei Vertretern aus der Noch-DDR, der Justizstaatssekretär Reinhard Nissel und der evangelische Kirchenjurist Hans-Martin Harder, gegenüber — bevor sich die nun dem zentralen Thema „Entstasifizierung“ und Überprüfung der Richter näherte, vergingen erst einmal eineinhalb Stunden.

Zunächst war grundsätzlich vom organisatorischen Aufbau der Gerichte und vom Personalmangel die Rede. Das größte Problem in diesem Zusammenhang sei vor allem, so die einhellige Meinung, daß der Beruf des Rechtspflegers in der DDR nicht existiere. 3.000 bis 4.000 Rechtspfleger werden nach Ansicht der bayerischen Justizministerin benötigt. Auch das Grundbuchwesen, das ihrer Meinung nach in „einem verheerenden Zustand“ sei, beschäftigte die Ministerin. „Grundstücksverkäufe haben erstaunlicherweise schon begonnen“, gab sich die Ministerin überrascht. Allein in Dresden würden 30.000 Eintragungsgesuche nicht bearbeitet.

Ein Programm der Feigheit

Bereits im Vorfeld wurde Kritik am Programm des deutschen Juristentages laut. Das brisante Thema „Was passiert mit der DDR-Justiz?“ sei zu sehr an den Rand gedrängt. Tatsächlich befasste sich auch nur diese eine Podiumsveranstaltung am Abend mit diesem Problem. Da dieser heikle Punkt ins Rahmenprogramm abgeschoben wurde, äußerten die Kritiker den Verdacht, daß hier der Juristenverband ähnlich feige und risikoscheu reagiere wie 1966, als das Rechtsforum zu einer „Sondersitzung“ über den unsäglichen Verlauf der Verfahren gegen NS-Schergen, die nur als Gehilfen verurteilt wurden, erst genötigt werden mußte.

„Wenn da einer durchrutscht, soll er durchrutschen“, verkündete der weißhaarige BVG-Präsident Sendler, locker im Zusammenhang mit der Wiedereinstellung und Vergangenheitsbewältigung der DDR- Richter. Auch er habe von manchen Kollegen bis zum Ende ihrer Dienstzeit nicht sicher sagen können, welche Rolle sie in der Nazi-Diktatur spielten. Doch gerade diese Richter seien „Kraft ihres schlechten Gewissens und der Einsicht, wieder etwas gutmachen zu müssen“, teilweise gute Richter gewesen. Als Sendel sich dann noch publikumswirksam gegen „diese verdammte Selbstgerechtigkeit und das Pharisäertum, das aus uns spricht“, wehrte, klatschten die Juristen erleichtert Beifall.

„Saubere Bundesjustiz“

Gequält und unter äußerster Anstrengung schaffte es nach ihm sein Kollege Odersky, „die Anfälligkeit für Verstrickung, gerade in unserem Beruf, mit der jeweiligen Staatsmacht“ auszusprechen. „Wir sind uns unserer eigenen Schwäche bewußt“, gestand Odersky. Die bayerische Justizministerin konnte über derartige Eingeständnisse freilich nur staunen. Ob Memminger Hexenprozesse oder das Verfahren gegen den ehemaligen CSU-Generalsekretär, Otto Wiesheu, der betrunken einen polnischen Rentner totfuhr, und dessen geringfügige Strafe nicht nur in Bayern für Schlagzeilen sorgte — für die Justizministerin kannte nur der DDR-Richter das Problem, daß er sich anhand von Vorgaben des SED-Regimes bei der Urteilsfindung „beobachtet und kontrolliert“ fühlte.

Zwar fielen auch die Stichworte „Rechtseinheit“ und „Glaubwürdigkeit der Rechtspflege“, doch das umstrittene Thema 218, dessen Regelung jegliche „Rechtseinheit“ und „Glaubwürdigkeit“ ad absurdum führt, war tabu. „Wir müssen's packen“, appellierte Sendler an das Rechtsforum und vermittelte damit das Gefühl von naivem Pioniergeist, gepaart mit Hilflosigkeit.

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