: Die Volkskammer im ZK-Walhalla
Das DDR-Parlament verabschiedet sich im Chaos ■ Von Petra Bornhöft
Ost-Berlin (taz) — Aus der kurze Traum mancher Abgeordneter von einem „würdevollen“ Abgang des DDR-Parlaments. Die chaotischen Umstände der vorletzten Sitzung übertreffen alles, was die Volkskammer sich bisher geleistet hat. Es beginnt mit der Unklarheit über den Beginn. Treffen sich die Abgeordneten um 10 Uhr, wie es am Vortag hieß, oder beginnt die Tagung um 11.30 Uhr, wie es die Morgennachrichten melden? Ahnungs- und leidenschaftslos dödeln Hunderte von Polizisten vor dem alten ZK-Walhalla herum. Einbahn-straße oder Bannmeile? „Fahren Sie, wie Sie wollen“, muffelt ein Vopo und kaut an seinem Butterbrot. Von der Französischen Straße schallen die Rufe der protestierenden „Palast-Mitarbeiter“ herüber, ohne daß ihre Forderungen an die Ohren der Abgeordneten dringen könnten.
Im Eilschritt nimmt Minister Eppelmann die Stufen der Marmortreppe, keinen Blick hat er übrig für die im Foyer ausgestellten (?) Rollstühle und Behinderten- Nachttöpfe. Was dieses Environment soll, weiß niemand so recht. Ebenso eilig wie hilflos flitzen Techniker, Abgeordnete und Minister durch das Gewirr der Gänge und Säle. Die Journalisten zerren vors Mikrofon, wen sie gerade bekommen. Mit deutlich hörbarem Kloß im Hals klagt eine Volkskammerangestellte in der „Essensversorgung“, daß „wir immer noch nicht wissen, was nach dem 3. Oktober geschieht, ob und wo wir weiterarbeiten“. Vor dem provisorischen Fraktionsraum der CDU stehen die Parlamentarier Schlange, um das vorletzte Kilo Gesetze einzusacken. „Sagt denn heute mal jemand von uns, daß die CDU dem Einigungsvertrag auch dann zugestimmt hätte, wenn die Bergmann- Pohl nicht diesen blöden Brief geschrieben hätte?“ Die Dame, heute in Schwarz-Gelb gewandet, hatte Geld für die ab 3. Oktober arbeitslosen Abgeordneten gefordert, andernfalls wackle die Zustimmung zum Einigungsvertrag.
Viel mehr indes beschäftigt vor der Sitzung alle Volkskammerangehörigen die Frage der StasiAktivitäten mancher Kollegen. Während viele sich empören über die Indiskretionen der letzten Tage, sind andere verzweifelt: „Können wir denn jetzt noch die Immunität aufheben, um endlich herauszufinden, wer seine Überprüfung verweigert und wer es war?“ heißt es beim Bündnis 90/Grüne.
Resignation auch bei der SPD. Hier aber vor allem über den Umzug ins ZK-Walhalla. „Das ist eine Demütigung, wie sie kaum größer hätte ausfallen können“, ist zu hören. Warum ausgerechnet das erste und letzte demokratisch gewählte Parlament der DDR in die SED- Zentrale ziehen mußte? Auch das weiß niemand, geschweige denn verstünde es jemand.
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