Après le déluge, nous

Chancen und Gefahren in Ostmitteleuropa  ■ Von Timothy Garden Ash

Auf der großen Konferenz, die Ende Juni vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien organisiert wurde, sprach Borislaw Geremek dramatisch von der „totalitären Versuchung“ in den postkommunistischen Ländern. Als analytische (im Unterschied zu einer rhetorischen) Aussage geht sie zu weit. In keinem der ostmitteleuropäischen Länder von heute läßt sich die Kombination jener besonderen Merkmale ausmachen, die von Jean-Francois Revel als die totalitäre Versuchung gekennzeichnet wurden. Man kann allerdings die Keime einer autoritären Versuchung erkennen.

Am wenigsten sichtbar sind diese in der Tschechoslowakei, in Ostmitteleuropa das Land mit der stärksten demokratischen Tradition im 20.Jahrhundert. Gewiß hört man Kritik an Havels eigenmächtigem, willkürlichem Stil und offen geäußerten Unmut über seinen „Hof“. Aber in einer Rede vor der neugewählten Bundesversammlung sprach Havel selbst sich für eine gewisse Beschränkung der Vollmachten des Staatspräsidenten aus, die er gegenwärtig noch genießt. Wenn die Regierung geschlossen und stark bleiben kann, auch wenn das Bürgerforum in mehrere Fraktionen als Vorstufen zu Parteien zerfällt — ein sehr großes „Wenn“ —, dann besteht eine gewisse Chance für Havel, sich allmählich aus den alltäglichen politischen Geschäften zurückzuziehen; im besten Fall könnte er für den Übergang in der Tschechoslowakei das werden, was König Juan Carlos für den Übergang in Spanien war.

In Ungarn ist die Versuchung vielleicht etwas stärker. Wie ein ungarischer Schriftsteller es mir gegenüber vor einiger Zeit ausgedrückt hat: „Die Tschechen haben es gut. Wenn sie den Teppich hochheben, finden sie Masaryk darunter, aber wir finden Horthy.“ Zum Glück ist der gegenwärtige Präsident Ungarns nicht Horthy, sondern eben jener ungarische Schriftsteller — der liberale, geniale und liebenswürdige Arpád Göncz. So wie das neue politische System Ungarns angelegt ist, käme für einen neuen „starken Mann“ aber wahrscheinlich eher das Amt des Premierministers in Frage, als das des Präsidenten. Er könnte seine Stellung durch ein Bündnis mit einer außerparlamentarischen Bewegung festigen und durch willfährige, von der Regierung beherrschte Medien absichern. Doch das Demokratische Forum ist noch keine solche Bewegung, und obwohl die Presse sicherlich noch nicht so unabhängig ist, wie sie eigentlich sein sollte (ironischerweise gehört inzwischen ausgerechnet die frühere Parteizeitung 'Népszabadság‘ zu den Presseerzeugnissen mit dem besten Ruf), so ist sie doch immer noch weit davon entfernt, ein Transmissionsriemen für die Regierungspolitik zu sein.

Selbst in Polen, wo die autoritäre Versuchung tatsächlich einen Namen und einen Schnurrbart hat, ist die unmittelbar drohende Gefahr sicher nicht die eines Übergangs — nach Balkanart — von einer kommunistischen zu einer nichtkommunistischen Diktatur. Man kann sogar sagen, daß die unmittelbare Gefahr hier in einem Zuviel und nicht in einem Zuwenig an Demokratie liegt. Die kurzfristige Wirkung von Walesas ungewöhnlicher Kampagne wird fast mit Sicherheit darin bestehen, den Prozeß der Pluralisierung und wahrscheinlich auch der politischen Zersplitterung zu „beschleunigen“, um sein eigenes Schlagwort zu benutzen. Mitte Juli hat eine zahlenmäßig starke Gruppe von über hundert Parlamentsabgeordneten und Aktivisten aus der Solidarność-Bewegung und den Bürgerkomitees eine neue Partei gebildet, die sich Bürgerkomitee — Demokratische Aktion (ROAD) nennt. Formal geführt von Wladyslaw Frasnyniuk und Zbigniew Bujak, den wahrscheinlich populärsten Führern von Solidarność nach Lech Walesa, und mit so bekannten intellektuellen und kulturellen Persönlichkeiten als Mitglieder wie Adam Michnik, Jerzy Turowicz und Andrzej Wajda, steht die Demokratische Aktion in offener Opposition zu Jaroslaw Kaczynskis Zentrumsverständigung, hat kritische Vorbehalte gegenüber Walesa und unterstützt die „Philosophie“ der Regierung Mazowiecki.

Während in Ungarn das Element der Stärke fehlt und in der Tschechoslowakei die echte Koalition, fehlt es in Polen also an freien Wahlen. Aber wird eine frei gewählte Regierung eine starke Koalition sein, so wie es die nur zum Teil frei gewählte Regierung Mazowiecki in den ersten sechs Monaten war? Oder wird sie eher eine schwache Koalition sein, mit Mitgliedern aus zahlreichen kleineren Parteien oder Fraktionen, wird sie endlosen Auseinandersetzungen und häufigen Umbesetzungen ausgesetzt sein? Das war schließlich der Fall, als Polen zum letzten Mal seine Unabhängigkeit gewann und eine parlamentarische Demokratie zu errichten versuchte, in den Jahren 1918 bis 1926. Danach wurde die Parteienlandschaft so zerklüftet, daß der „Pluralismus der politischen Parteien Polens (...) die Paraphierung permanenter Pakte zwischen potentiellen Partnern prekär machte“, wie der Historiker Norman Davies stabreimte.

Auf einer Versammlung von Lech Walesas Bürgerkomitee Ende März, genau zu Beginn des „Kriegs an der Spitze“, äußerte Tadeusz Mazowiecki die Befürchtung, daß die noch in den Kinderschuhen steckende polnische Demokratie zu einer „polnischen Hölle (werden könnte). Eine polnische Hölle aus Zank, Intrigen und Konflikten.“ Im Juni sagte Walesa auf der dreizehnten Versammlung des Bürgerkomitees: „Vielleicht müssen wir durch diese polnische Hölle gehen.“ Und zur Zeit sieht es ganz danach aus. Man könnte sich eine solche spalterische Politik vielleicht leisten — die Italiener kommen anscheinend damit zurecht —, wenn man bereits eine florierende Marktwirtschaft und eine entwickelte civil society hätte. Aber hier, in der postkommunistischen Phase, hängt noch zu viel vom Staat ab. Es ist der Staat, der den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft organisieren muß, er ist es, der die Bedingungen für den Aufbau der civil society schaffen muß. Damit bietet sich eine alternative Definition für die polnische Hölle an: italienische Politik ohne die italienische Wirtschaft.

Wenn die Demokratie in Ostmitteleuropa gegenwärtig bedroht ist, dann wohl eher durch ihren exzessiven Gebrauch. In der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Polen lassen sich drei Hauptelemente ausmachen, die Anlaß zur Besorgnis geben. Erstens besteht ein allgemeiner Unmut nicht nur über die Kosten des wirtschaftlichen Übergangs wie Preissteigerungen, Abbau von Subventionen sowie Arbeitslosigkeit, nicht nur über neue Ungerechtigkeiten und die Langsamkeit der sichtbaren Veränderungen, sondern auch über die Prozesse der parlamentarischen Demokratie, die ihrerseits für diese Langsamkeit verantwortlich gemacht werden. Es ist schwierig, sich innerlich von dem dramatischen Tempo der Revolutionen des vergangenen Jahres auf den langsamen Gang der parlamentarischen Demokratie dieses Jahres umzustellen. Eine scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber der neuen Politik (die sich in der hohen Wahlenthaltung in Polen und Ungarn ausdrückt) und revolutionäre Ungeduld sind tatsächlich zwei Seiten derselben Medaille.

Zeitens sind die Prozesse der entstehenden Demokratie tatsächlich häufig langsam, ungleichmäßig und fehlerhaft. Während die Bevölkerung extrem wenig Toleranz oder Verständnis für politische Konflikte aufbringt („Warum können wir nicht vereint bleiben?“), besteht zugleich ein abnorm hoher Grad an politischem Konflikt innerhalb der neuen politischen Eliten — weil es keine klaren Trennlinien gibt, keine richtigen Parteien und wenig „Spielregeln“, weil auch die neuen Führer nicht daran gewöhnt sind, mit alltäglich gewordenen multilateralen Konflikten zu leben, und Schwierigkeiten haben, von einer antipolitischen auf eine normale politische Sprache umzuschalten, und natürlich, weil Macht eine gefährliche Droge ist.

Drittens können die Erschütterungen und Nöte, die unvermeidlich mit der Umstellung auf eine Marktwirtschaft einhergehen, sowohl die Zersplitterung der Elite als auch die Desillusionierung der Bevölkerung verstärken. Man kann sich mühelos vorstellen, wie diese drei Elemente — Auseinanderdriften der Elite, Desillusionierung der Bevölkerung, wirtschaftliche Not — sich zu einem Teufelskreis verbinden und gegenseitig hochschaukeln. Vermutlich geschieht genau dies im Polen von heute.

Nach 1918 kam 1926 mit dem Staatsstreich Pilsudskis. Aber obwohl die Vergangenheit in so vieler Hinsicht mit Macht zurückzukehren scheint, gibt es mindestens zwei gewichtige Gründe für die Hoffnung, daß sich die Geschichte nicht einfach wiederholen wird. Der erste ist die allgemeine Erfahrung mit Diktaturen (von links wie von rechts) während des letzten halben Jahrhunderts. Als Czeslaw Milosz auf seiner jüngsten Reise nach Polen gefragt wurde, was das Volk nach seiner Meinung aus den Jahren unter dem Kommunismus gelernt habe, gab er zur Antwort: „Resistenz gegen Dummheiten“.

Wie wir gesehen haben, sind die Menschen in Ostmitteleuropa mit den Formen und Bräuchen der Demokratie nicht vertraut und stehen ihnen deshalb vielfach mißtrauisch gegenüber. Aber die Bräuche der Diktatur? Die kennen sie nur allzu gut. „Ich weiß vielleicht nicht, was Freiheit ist“, schrieb ein anderer polnischer Dichter, „aber ich weiß, was Unfreiheit ist.“ Angenommen, ein ehrgeiziger starker Mann käme daher und versuchte, mit populistischer Demagogie die parlamentarische Regierung zu stürzen. Wie würde er dann regieren? Mittels einer außerparlamentarischen Massenbewegung? Mit Polizeiterror? Durch Zensur? Kriegsrecht? Das Repertoire von Diktaturen ist relativ klein und in dieser Region weitgehend diskreditiert.

Gegen dieses Argument läßt sich das rumänische Beispiel anführen. Ohne ein allzu großes Gewicht auf Unterschiede der Tradition und der politischen Kultur zwischen Ostmitteleuropa und den Balkanländern zu legen, möchte ich einen zweiten guten Grund für die Überzeugung anführen, daß diese Länder letzten Endes der autoritären Versuchung widerstehen können. Es ist die internationale Lage. Wenn mehr oder weniger autoritäre Regierungen in Ostmitteleuropa zwischen den Kriegen eine Blütezeit erlebten, dann lag dies zum Teil daran, daß es auch im übrigen Europa Beispiele für einen Autoritarismus gab, der außerdem auf die eine oder andere Weise mit dem Traum der Moderne in Verbindung gebracht werden konnte. Heute findet man solche Beispiele nicht mehr, und die Moderne ist unzweideutig mit der Demokratie verknüpft.

Es wäre schön, wenn Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei ihre „Heimkehr nach Europa“ koordinierten und gegenseitig ihre noch jungen Demokratien unterstützen könnten. Doch trotz des guten Willens der neuen Politiker, wie er durch den Gipfel von Bratislava im April symbolisiert wird und in einer neuen Form der institutionalisierten Koordination auf hoher Ebene zum Ausdruck gebracht werden soll, ist die gegenwärtige Situation ebensosehr durch Konkurrenz wie durch Kooperation gekennzeichnet. Auf fast jedem Gebiet, auf fast jeder internatinalen Zusammenkunft erlebt man, wie die polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Vertreter für ihre jeweils eigenen Forderungen die besondere Aufmerksamkeit des Westens zu gewinnen versuchen. Diese Konkurrenz ist nicht ungesund, aber sie unterstreicht die neu-alte Abhängigkeit dieser Länder — vom Westen.

Ein Teil der Anziehungskraft, welche die von Jugoslawien (insbesondere Slowenien und Kroatien), Österreich, Italien, der Tschechoslowakei und Ungarn initiierte „Pentagonale“ auf die beiden letztgenannten Länder ausübt, mag in der sentimentalen Wiederbelebung alter Verbindungen aus der Habsburger Zeit bestehen, aber daneben gibt es auch die vulgärere Verlockung, enger mit zwei entwickelten westlichen Ländern zusammenzuarbeiten, eines davon ein führendes Mitglied der EG, das andere nach Kräften bemüht, dort ebenfalls Einlaß zu finden. Auf unterschiedliche Weise haben die Außenminister Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei festgestellt, daß sich eine neue demokratische Partnerschaft ihrer Länder nur auf dem Umweg über die Zugehörigkeit zu einer größeren europäischen Gemeinschaft verwirklichen läßt — und damit meinen sie vor allem eine größere Europäische Gemeinschaft.

Die Verantwortung des Westens allgemein und Westeuropas im besonderen ist deshalb immens. Eine Karikatur auf der Titelseite der führenden tschechischen unabhängigen Tageszeitung 'Lidové Noviny‘ brachte eine Empfindung gegenüber dem Westen zum Ausdruck, der man in Budapest und Warschau ebenso begegnen kann wie in Prag. Man sieht einen ziemlich trübsinnig dreinblickenden Mann, der sagt: „Das europäische Haus ist geschlossen. Wenn wir hineinwollen, müssen wir erst unsere Grundprobleme lösen.“ Die Haltung mancher führender Politiker im Westen erinnert gelegentlich noch immer an Dr.Johnsons berühmte Definition von einem Wohltäter: „Ein Wohltäter, mein Herr, ist das nicht einer, der ungerührt einem Menschen zusieht, der im Wasser um sein Leben strampelt und dem er, sobald dieser wieder festen Grund unter den Füßen hat, seine Hilfe aufdrängt?“ Zweifellos sind westliche Investoren nicht moralisch verpflichtet, zu investieren, ohne daß das Umfeld stimmt. Aber die westlichen Demokratien haben eine Verpflichtung zu helfen, und sie haben darüber hinaus ein klares politisches Interesse daran, dem Ertrinkenden zu helfen, während dieser noch im Wasser kämpft. Vorausgesetzt natürlich, er versucht wirklich zu schwimmen und begnügt sich nicht mit Hilferufen.

Das vielleicht größte Risiko einer Überdemokratisierung von der Art, wie ich sie als möglich angenommen habe — bei der mehr geschrien als geschwommen wird — besteht darin, daß das westliche Interesse nachläßt; es kann sich noch als ebenso seicht erweisen, wie es gegenwärtig breit ist. „Warum sollen wir ihnen helfen, wenn sie sich nicht selbst helfen können?“ wird es dann heißen.

Auch diese Medaille hat ihre zwei Seiten. Wenn der Westen helfen soll, hat er auch ein Recht, bestimmte harte, konsequente wirtschaftspolitische Eingriffe zu verlangen — nennen wir sie abgekürzt einen Balcerowicz- oder Klaus-Plan — und eine Regierung, die in der Lage ist, diese Politik auch durchzuhalten. Politisch wünschenswert sind, wie ich bereits angedeutet habe, starke, frei gewählte Koalitionen. Aber wenn die ostmitteleuropäischen Länder solche Regierungen hervorbringen, dann müssen sie sich auch darauf verlassen können, daß ihnen tatsächlich Hilfe geleistet wird. Ohne diese Hilfe lassen sich derartige wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht durchhalten.

Wie Zbigniew Brzezinski auf der Wiener Konferenz festgestellt hat, rechnet die Bundesrepublik gegenwärtig damit, in den nächsten zwei Jahren einen Betrag in der Größenordnung von 70 Milliarden US-Dollar für den Übergang in der bisherigen DDR zu bezahlen. Wie bei allen solchen Kostenvoranschlägen wird die Rechnung am Ende mit Sicherheit höher ausfallen. Und hier geht es um einen vorgefertigten Übergang — sozusagen eine schlüsselfertige Demokratie — für nur 16 Millionen Menschen im wirtschaftlich stärksten Land des ehemaligen Ostblocks. Wieviel höher wird dann die Rechnung für hausgemachte Demokratien mit 60 Millionen Menschen in drei wesentlich ärmeren Ländern ausfallen?

Es besteht zweifellos eine allgemeine Übereinstimmung unter den westlichen Regierungen und politischen Eliten, daß wir beim Übergang zur Demokratie in Ostmitteleuropa „Hilfe leisten sollten“. Aber wieviele Politiker sind bereit, Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die sich in einer Größenordnung bewegen, die die westdeutsche Regierung nach einer sehr nüchternen Überprüfung für die ehemalige DDR für notwendig hält? Vor allem, wieviele Politiker sind ernsthaft bereit, sich gegenüber ihren eigenen Wählern für eine solche Hilfe einzusetzen? Wenn man eine derartige Rechnung präsentierte, würden die meisten westeuropäischen Wähler, so fürchte ich, wohl bedauernd abwinken. Ironischerweise ist es so, daß gerade der Typus der westlichen Konsumdemokratie, wie ihn sich die ostmitteleuropäischen Länder so heiß ersehnen, am wenigsten Hilfsbereitschaft ihnen gegenüber aufbringt. Wenn die westdeutschen Steuerzahler als Wähler schon so zögern, für ihre deutschen „Brüder und Schwestern im Osten“ zu bezahlen, wer wird dann ernsthaft von ihnen erwarten, daß sie für Polen etwas herausrücken?

Trotz alledem sehen sich die demokratischen Führer im Westen vor der Herausforderung, eben diese unpopuläre Sache so beredt und überzeugend wie möglich zu vertreten und einfach darauf zu verweisen, daß dies ein Augenblick ist, in dem kurzfristige persönliche und materielle Interessen langfristigen nationalen und europäischen Interessen geopfert werden sollten. Was wir erleben, ist somit nicht nur eine Probezeit für die jungen Demokratien Ostmitteleuropas, sondern auch eine Probezeit für die etablierten Parteien Westeuropas.

Meine Beschränkung auf lediglich drei Länder Ostmitteleuropas mag einen Einwand provozieren: Was ist mit all den anderen Europäern im Osten und Südosten, die ebenfalls nach Demokratie rufen? Meine Antwort darauf ist rein pragmatisch. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei sind die Länder, in denen das Schicksal der Demokratie heute zur Entscheidung steht und das Gewicht des Westens den Ausschlag für Erfolg oder Scheitern geben kann. Man kann nicht alles auf einmal tun. Mit der deutschen Wiedervereinigung hat sich die Ostgrenze des demokratischen Europas bereits von der Elbe an die Oder verschoben. Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, daß es sich in zehn oder fünfzehn Jahren bis zum Ural oder zum Schwarzen Meer erstrecken wird. Aber die Frage heute lautet: Wird das demokratische Europa an der Oder enden oder am Bug?Deutsch von Udo Rennert

Es handelt sich um einen Vorabdruck aus dem gleichnamigen Essay von Timothy Garden Ash, der im Oktober in der ersten Nummer der Zeitschrift 'Transit. Europäische Revue‘ (Wien, Institut für die Wissenschaften vom Menschen/ Frankfurt, Verlag Neue Kritik) erscheinen wird. Rights by New York Review of Books/Transit 1990. Wir danken für die freundliche Genehmigung.