: Sind wir ein Volk?
■ Wolfgang Ullmann plädiert für eine Verfassunggebende Versammlung DOKUMENTATION
Zeit der Verfassung
Es ist soweit: Die Übergangszeit, von der die Präambel des Grundgesetzes spricht, ist zu Ende. Das Niemandsland, das zwischen uns liegt, hat sich geöffnet. Wo einst Grenztruppen, elektrische Drähte, Beobachtungstürme das Terrain beherrschten, dort spielen jetzt Kinder, abends gehen Liebespaare und Rentner spazieren. Die Grenze hat sich fast schon völlig verwischt. Wir sehen die Mauer jetzt fast täglich von beiden Seiten, und beide sind mittlerweile in gleicher Weise bemalt. Man kann kaum noch unterscheiden, welches die östliche, welches die westliche ist.
Nun stehen wir in diesem ehemaligen Niemandsland, sehen es uns und der veränderten Welt an, daß man irgend etwas von uns erwartet. Wie bei einem Familienfest. Alle sitzen am Tisch, gespannt, wer das lösende Wort findet. Es ist soweit, die Übergangszeit ist beendet. Wir müssen das Wort finden, wir müssen jetzt unumwunden und ehrlich auf die Frage antworten: Sind wir wirlich ein Volk? Und eines ist klar: Auf diese Frage „Sind wir ein Volk?“ antwortet man nicht, wenn man möglichst laut behauptet: „Wir sind ein Volk.“
Aber nun, nachdem wir uns in einer einzigen Gesellschaft wieder gefunden haben, fühlen wir uns in einem Niemandsland, dem alle idyllischen Züge ermangeln. Es ist das Niemandsland einer Zeit, die so schnell über uns kam, wie wir es uns nie und nimmer vorstellen konnten. Das Niemandsland einer unvorstellbaren Ungleichheit in einer einzigen Gesellschaft, mit allen Symptomen pathologischster Entfremdung.
Darum sind wir noch immer sprachlos, wenn wir auf die Frage antworten sollen: Sind wir ein Volk?
Sprache der Verfassung
Und sicherlich ist es dieses Ringen nach Sprache, das uns nach Weimar geführt hat. Haben wir Aussicht, zu finden, was wir suchen?
Wir tun gut daran, nicht allzu optimistisch zu sein, eingedenk der sprichwörtlichen Sprachlosigkeit unserer Klassiker in Sachen Volk und Nation. Steht doch ziemlich in der Mitte von Goethes Dichtung und Wahrheit — jenes unvergleichlichen Mikrokosmos deutscher Gechichte des 18. Jahrhunderts — ein Satz, der eine Perspektive unüberwindlichen Unglücks eröffnet: „Über diese Eröffnung (er sei zum Volksredner geboren) erschrak ich nicht wenig: denn hätte sie wirklich Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen.“
Und wie oft hat man Schiller getadelt, daß er Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen schrieb, wo es um das Schicksal von Vaterland und Nation ging. Die Geschichtsschreibung der letzten 150 Jahre sprach tadelnd von „Weltbürgertum“ und stellte ihm mit Bismarckschem Pathos den Nationalstaat entgegen, als Überwindung eines noch nicht voll entwickelten politischen Bewußtseins.
Wir urteilen anders. Denn wir sehen Weimar im Schatten des geisteskranken Nietzsche, im Schatten des Turms von Buchenwald. Und in diesem Schatten sind wir uns nur zu gut bewußt: Wenn Schiller davon spricht, auf dem politischen Schauplatz werde über das große Schicksal der Menschheit verhandelt, dann sagt er nicht irgend etwas abstrakt Kosmopolitisches, sondern spricht nur aus, was in den Baracken von Buchenwald ohne Waffen getan werden mußte: Widerstand leisten gegen Inhumanität, die in der Übermacht war.
Nein — hier muß man eher der Nationalgeschichtsschreibung Sprachlosigkeit in Sachen Humanität vorwerfen.
Es ist die Gesellschaft, die staatlich bestenfalls so organisiert ist, wie es der Rütli-Schwur in Schillers Tell sagt: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern.“ Hier ist jedenfalls eine Bedingung genannt für eine wahrheitsgemäße Antwort auf die Frage: Sind wir ein Volk?
Die Bedingung lautet: der uneingeschränkte und rückhaltlose Wille zur Notgemeinschaft. Aber warum gibt es in dieser Notgemeinschaft nur Brüder? Weil sie Wehr- und Waffengemeinschaft ist. Wie klein aber ist der Teil des Lebens, dem die Wehr- und Waffengemeinschaft sich zuordnet?
Es ist nicht Romantik und nicht Idyllik, wenn wir an diese Ausschnitthaftigkeit den Maßstab des ganzen Lebens kritisch anlegen. Er ist uns aufgezwungen von der Erfahrung dieses Jahrhunderts, der Erfahrung, daß die Trennung von Wehrgemeinschaft der Männer und Schutzgemeinschaft von Frauen und Kindern angesichts einer übermächtigen Waffentechnik hinfällig geworden ist. Männer, Frauen, Kinder — sie haben alle gleichermaßen Anteil an der Bedrohtheit des Lebens.
Ihr gegenüber werden wir solange sprachlos bleiben, wie es uns nicht gelingt, eine Sprache zu finden, die diese Verfassung der Gesellschaft von Grund auf ändert. Es ist die Verfassung der vorchristlichen Welt, die Herrschaftshierarchie als einziges Grundmuster aller sozialen Strukturen kennt und es darum auch noch auf das Verhältnis Mann und Frau anwendet. Unsere Sprachlosigkeit wird allein von der Sprache überwunden, die diese Verfassung der Gesellschaft, ihre Strukturierung durch Herrschaftshierarchien, durch die politische Gleichstellung der Frau verändert.
So gesehen müßte im Dialog von Frau und Mann als Personen gleichgestellter politischer Mündigkeit Sprache eine neue verfassunggebende Gewalt gewinnen.
Zugleich wird diese gemeinsame Erfahrung ein Maßstab für die unbestechliche Wahrhaftigkeit der Sprache sein, die von einer neuen Verfassung gesprochen werden muß. Religiöse Deklarationen, wie sie auch im neuen Entwurf für die Grundgesetz- Präambel im Einigungsvertrag stehen, wären dann ebenso ausgeschlossen wie die dortigen Aussagen über die fünf DDR-Länder. Denn was sollen religiöse Deklarationen, wo der größere Teil der Bevölkerung irreligiös ist, und wie kann man vom Wahrnehmen des Selbstbestimmungsrechtes in Ländern reden, die noch gar nicht existieren und in denen nie eine Volksabstimmung über die neue Verfassung stattgefunden hat? Darum sind die Stasi-Akten ein Verfassungsproblem: Diejenigen, die Opfer der Observation, Repression und Entwürdigung sind, sie sind das Wahrhaftigkeitskriterium, dem unsere Sprache genügen muß. Ehe nicht aufgedeckt ist, was geschah, wer es getan und wer verantwortlich ist, wird die Wahrhaftigkeit nicht erreicht, die der Sprache verfassunggebende Gewalt verleiht. In einer Atmosphäre der Lüge und der Verschleierung können Freiheit und Menschenwürde nicht gedeihen.
Ort der Verfassung
Diesmal ist es nur eine kleine Bürgerinitiative aus allen deutschen Ländern, keine Nationalversammlung, die hier das Wort ergreift.
Wir sind nur dann ein Volk, wenn wir als die geschichtliche Präambel unserer von uns zu vollziehenden Einheit die Friedens- und Gerechtigkeitspflichten anerkennen, die uns das Kriegsende von 1945 auferlegt hat. Völkerrechtswidrigkeit und Menschenrechtswidrigkeit der Weltkriege fordern von uns eine Verfassung, die nicht nur den Willen, sondern auch die Möglichkeit zur Wiederholung solcher unsühnbarer Verbrechen ausschließt. Nicht nur Teilung der Gewalten ist erforderlich, sondern die volle Destruktion und Liquidation einer Gewalt, die zur Entfesselung von Weltkriegen die Macht hat. Ein Reich, das über Existenz oder Nichtexistenz von Völkern zu entscheiden die Macht hat, soll in keiner denkbaren Zukunft aller Deutschen mehr sein.
Das ist es, was uns bewogen hat, der Tradition des Nationalstaates als Reich eine Absage zu erteilen und einen Bund deutscher Länder zu fordern, der dadurch zustande kommt, daß diese mit allen Funktionen und Merkmalen der staatlichen Autorität ihrerseits eine Exekutive errichten, die allein die Macht hat, der von den Ländern übernommenen Friedens- und Gerechtigkeitspflicht freie Betätigung zu sichern. Wolfgang Ullmann
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