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Europäische und sowjetische Kunst

■ Ein hier bisher unveröffentlichtes Interview mit Walter Benjamin

Das in Europa zu beobachtende gesteigerte Interesse an der sowjetischen Kunst führt weiterhin dazu, daß viele ausländische Kunstwissenschaftler in die UdSSR kommen. Der berühmte Kunstwissenschaftler Dr.Walter Benjamin, der zum Sammeln von Material über die sowjetische Kunst in Moskau eingetroffen ist, der Verfasser interessanter Arbeiten, u.a. Die Kunsttheorie der deutschen Romantiker, Theorie der übersetzung, Die Dramaturgie des Barock, ist ein sozialistischer Kunstwissenschaftler vom Typ Hausensteins.

Dr.Benjamin, der sich zu Untersuchungen über die italienische Kunst ein halbes Jahr in Italien aufgehalten hat und danach wieder in Deutschland gewesen ist, hat im Gespräch mit unserem Mitarbeiter interessante Beobachtungen und Auskünfte über die Kunst in diesen Ländern mitgeteilt.

Nach den Worten Dr.Benjamins hat der Faschismus der zeitgenössischen italienischen Kunst seinen vernichtenden Stempel aufgedrückt. Der Futurismus, der ursprünglich als antibürgerliche Kunstströmung entstanden ist, hat schon längst bürgerliche Züge angenommen. Dr.Benjamin kam zu dem Schluß, daß die italienische Kunst keinerlei Zukunft hat: Die italienische Kunst ist eine Sache einzelner Personen und wird nur genau in dem Maß exisieren, das ihre Hauptvertreter, Marinetti und d'Annunzio und der Führer des Faschismus, Mussolini, ihr gesetzt haben. In Italien befindet sich die Kunst vollständig in der Leibeigenschaft der Unternehmer. Die Hauptforderung, die beispielsweise an das Gemälde gestellt wird, besteht darin, daß es als Verzierung zu dienen habe, nach dem Ausspruch Picassos, ein Loch in der Wand zu sein, während sich die Kunst in der UdSSR in den Dienst der Industrie und des alltäglichen Lebens stellt.

Die italienische Architektur entwickelt sich ebenfalls nicht weiter. An sie wird in erster Linie die Forderung gestellt, „schön“ und dekorativ zu sein. In der UdSSR ist die Architektur bestrebt, die Entwicklung neuer Lebensformen zu fördern. Der Schwerpunkt der Gebäude liegt auf ihrer Geräumigkeit. Als er über die von ihm gesammelten Photographien, Plakate und Schaubilder sprach, die die sowjetische Kunst veranschaulichen, betonte Dr.Benjamin mit großem Interesse, daß es im Westen überhaupt keine von Künstlern angefertigte Schaubilder gibt.

Einige interessante Informationen vermittelte Dr.Benjamin über die deutsche Literatur. Das bedeutendste Ereignis im literatrischen Leben Deutschlands sind die Bücher des Dichters und Dramaturgen Emil Ludwig, der die UdSSR besucht hat und in Deutschland darüber Vorlesungen hält. Diese Bücher haben Wilhelm II. und Bismarck zum Gegenstand. Die objektive Einstellung des Autors zu den Götzenbildern der deutschen Bourgeoisie war Grund für eine Sensation, die bei ihrem Erscheinen hervorgerufen wurde. Andererseits ist dieser Erfolg ein Anzeichen für die politische und wirtschaftliche Wiedergeburt der deutschen Nachkriegsbourgeoisie, deren Aufmerksamkeit durch den Autor auf ihre verehrten Helden gelenkt wird.

Nach dem Verfall des Expressionismus brach in der zeitgenössischen deutschen Kunst eine Periode tiefer Stagnation an. Es gibt weder neue originelle Talente, noch neue schöpferische Ideen oder Theorien. Die bemerkenswertesten Werke der deutschen Literatur bleiben die Werke des vor einiger Zeit gestorbenen Paul Scheerbart, obgleich ihnen im breiten Publikum kein Erfolg beschieden ist. Die Bücher Scheerbarts sind utopisch-kosmologische Romane, in denen die Frage nach interplanetarischen Verbindungen herausgearbeitet wird, sowie Menschen als Schöpfer von Maschinen geschildert werden, die Begründer einer vollkommenen Technik. Die Romane sind durchdrungen vom Pathos der Technik, mit einem ganz neuen und für die Literatur ungewöhnlichen Pathos der Maschine, aber weit entfernt von einem sozialen Bedeutungsgehalt, da die Helden Scheerbarts eine Weltharmonie anstreben und das Maschinenbewußtsein für sie nicht aus ökonomischen Gründen von Wichtigkeit ist, sondern zum Nachweis irgendwelcher vollkommener Wahrheiten dient. Diese Abstraktheit ist auch der Grund dafür, daß die Romane keine besondere Aufmerksamkeit erregen.

Die etablierten Schriftsteller Deutschlands verharren auf ihren Plätzen. Hauptmann gibt sich mit seinen früheren Erfolgen zufrieden und schreibt unsinnig-phantastische Sachen. Thomas Mann hat eine persönliche Wandlung durchlebt, aber letztere ist weder für sein Schaffen von besonderem Belang noch von gesellschaftlichem Interesse. Schnitzler verwandelt seine Werke in Freudsche Traktate. Zusammenfassend ist zu sagen, daß Deutschland einen ernsthaften Niedergang in der Kunst erleidet. Das einzige Land, in dem sie wächst und mehr und mehr einen organischen Charakter gewinnt, ist die UdSSR, schloß Dr.Walter Benjamin.

Aus:'Vecernjaja Moskva‘, 14.Januar 1927. Übersetzung: Bernd- Michael Brunssen.

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