Volle Souveränität erst in ein paar Jahren

■ Litauens Regierungschefin Kazimiera Tarwidene (Prunskiene) über Verhandlungen mit Gorbatschow und Jelzin und den naiven Nationalismus im Land INTERVIEW

taz: Regierung und Parlament sind zerstritten über den Verhandlungskurs mit Moskau, immer lauter ertönt der Ruf nach Neuwahlen — die Unabhängigkeitsbewegung Sajudis scheint in einer tiefen Krise zu stecken. Warum?

Tarwidene: Das ist doch ganz normal. Sajudis steckt seine Kräfte jetzt in staatliche Strukturen. Die Menschen haben mit viel Energie darum gekämpft, um in diese Position zu kommen. Jetzt haben sie es erreicht. Bei denen, die das noch nicht erreicht haben, ist nicht mehr soviel intellektuelles Potential vorhanden. Außerdem ist es sehr schwer, neue Positionen für Sajudis zu finden, denn Sajudis ist keine Opposition mehr. Vielleicht wird die Bewegung neue Aufgaben finden. Aber das braucht Zeit. Im Moment ist die Zukunft von Sajudis vollkommen unklar.

Was werden die nächsten Schritte auf dem Weg zur Unabhängigkeit sein?

Die Vorbereitung und Durchführung der Verhandlung mit Moskau. Ich meine hier Moskau im doppelten Sinne als Sitz der sowjetischen Regierung und als Hauptstadt der russischen Föderation. Rußland ist heute ein wichtiger Gesprächspartner für alle sowjetischen und unabhängigen Republiken.

Ist der Kontakt zu Jelzin für Sie inzwischen wichtiger als der zu Gorbatschow?

Nein. Vor kurzem haben beide ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, was den Anfang eines Annäherungsprozesses bedeutet. In dieser Verbindung liegt für mich die Zukunft der neuen Sowjetunion.

Bedeuten die Verhandlungen mit Jelzin aber nicht gleichzeitig einen Konfrontationskurs gegen Gorbatschow?

Wir verhandeln mit beiden. Wir können einige Punkte unserer Unabhängigkeit sehr gut mit Jelzin verhandeln wie zum Beispiel wirtschaftliche Aspekte. Aber Jelzin kann noch nicht über die Anwesenheit sowjetischer Truppen in Litauen, über Grenzfragen oder über die Eigentumsfrage verhandeln, und darum haben unsere Verhandlungen zwei Adressen. Je nach Gegenstand verhandeln wir mit der Union beziehungsweise mit Rußland. Im Moment wird in Moskau außerdem ein neuer Unionsvertrag ausgearbeitet, der dann keiner Pyramide mehr entsprechen soll, also keinem hierarchischen Verhältnis der Republiken. Es ist aber dennoch eine Union vorstellbar, in der Rußland die Mitte bildet und die anderen souveränen Staaten um dieses Zentrum herum gruppiert leben. Darüber denken sowohl Gorbatschow als auch Jelzin nach. Litauen ist nicht bereit, einen Unionsvertrag zu unterzeichnen, aber wir bereiten direkte horizontale Kontakte zu anderen Republiken wie zum Beispiel Belorußland vor.

Sie stehen erstaunlicherweise nicht auf der Liste der Delegationsleiter für die Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung. Warum nicht?

Meine Regierung hat im März eine Kommission zur Vorbereitung dieser Gespräche gebildet, die ich geleitet haben. Das Ergebnis wiederum haben wir dann dem Parlament übergeben. Das Parlament wiederum hat seine eigene Kommission, in der sie unsere Voschläge untersuchen und dann als Grundlage für die Gespräche mit Moskau akzeptieren. Meiner Meinung nach müßte diese Delegation aber direkt von der Regierung gebildet werden, so ist das in Europa und dem Rest der Welt ja auch durchaus üblich. Wenn aber das Parlament selber diese Aufgabe übernimmt und die Delegation vom Parlamentspräsidenten, Vytautas Landsbergis, seinem Stellvertreter und seinem Sprecher geleitet wird, dann kann es sehr wohl passieren, daß bei den Verhandlungen mit Moskau im Ergebnis etwas ganz anderes herauskommt.

Ich habe das auch Landsbergis vorgehalten, und so stellt die Regierung jetzt drei Mitglieder der Delegation, meinen Stellvertreter, den Außenminister und den Justizminister. Zu meiner Person: Ich glaube, es wäre eher schädlich, wenn die beiden Spitzenvertreter von Regierung und Parlament bei solchen Verhandlungen unterschiedliche Standpunkte haben. Die Diskussionen müssen zu Hause stattfinden, in Moskau muß dann mit einer Zunge gesprochen werden.

In Litauen werden zunehmend Parlamentsneuwahlen gefordert. Was halten Sie von diesen Forderungen?

Ich glaube, wir müssen die Situation innerhalb der bestehenden Strukturen stabilisieren. Das ist sicher nicht leicht, denn einige Radikale meinen, daß unsere Hauptaufgabe im Kampf mit Moskau und Gorbatschow persönlich besteht. Denen geht die Loslösung von Moskau einfach nicht schnell genug. Wir sollten diese Warnungen ernst nehmen und die Situation im Parlament entsprechend stabilisieren.

Ist der Druck der Nationalisten auf die Regierung sehr groß?

Ja, es gibt einige naive Patrioten, die versuchen, unbedingt selbst an die Regierung zu kommen und die den Gedanken der Nation übertreiben.

Sie sind bei einer Demonstration der Liga „Freies Litauen“ als Kommunistin beschimpft worden. Was empfinden Sie dabei?

Diese Liga hat gegen Kommunisten und Stalinisten gekämpft. Langsam gehen ihr die Gegner aus, und so suchen sie nach neuen Feinden. Wenn sie unbedingt welche finden wollen, gehöre ich eben auch dazu, weil ich ab und zu mit Gorbatschow spreche. Diese Leute haben aber zu wenig Rückhalt in der Bevölkerung.

Wir waren sehr erstaunt darüber, daß in Litauen ein neuer Geheimdienst gegründet wurde. Was sind seine Aufgaben?

Sie meinen das Department für Staatssicherheit. Wir müssen als unabhängiger Staat solche Strukturen haben. Das ist in anderen Ländern ganz normal. In Litauen existiert außerdem immer noch der sowjetische Geheimdienst KGB. Er sammelt unter anderem Informationen und gibt sie nach wie vor an Moskau weiter. In unsere staatlichen Strukturen haben wir den KGB nicht übernommen, und er stört uns auch nicht. Aber wir brauchen einige Informationen, um zu erfahren, wie stabil Litauen wirklich ist. Wir müssen wissen, wo sich die Quellen befinden, aus denen sich Unruhen und Destabilisierung entwickeln könnten. Unsere Strukturen sind noch zu schwach, und wir werden sie Schritt für Schritt aufbauen.

Wann, schätzen Sie, wird Litauen seine vollständige Souveränität erlangt haben?

Ich glaube, das braucht noch einige Jahre. Staatliche Souveränität bedeutet nicht nur wirtschaftliche Unabhängigkeit, sondern auch die Entfernung fremder Armeen und Bildung eigener Grenzen. Wenn die sowjetische Armee die DDR und andere Länder Osteuropas verläßt, dann muß sie, so unsere Forderung, auch das Baltikum verlassen. Ich habe diese Forderung in Moskau bereits beim Präsidentialrat und dem Föderationsrat erhoben, und das wurde dort, Gorbatschow inklusive, ganz normal und ohne Widerspruch angenommen. Ich meine, daß die litauische Freiheit und Entmilitarisierung eng zusammengehören. Uns geht es da genauso wie den andern Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der sowjetischen Armee okkupiert wurden. Wir brauchen sehr schnell eine Einigung mit Moskau, denn solange wir keine Klarheit im Verhältnis zu Moskau haben, kann sich bei uns kein normales Leben entwickeln. Das betrifft das Wirtschaftsleben genauso wie eine Perspektive für die Jugend. Wir brauchen Sicherheit, und ohne Protokolle und Vertrag können wir unserer Bevölkerung diese Sicherheit nicht bieten. Interview: Maria Laura Araoz

und Stephan Lamby