: KSZE-Gipfel gefährdet
Rechtzeitige Fertigstellung eines VKSE-Abkommens durch neue Forderungen in Frage gestellt ■ Aus Wien Andreas Zumach
Die Fertigstellung eines ersten Abkommens über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) bis Mitte November ist gefährdet. Und damit ist auch der KSZE-Gipfel am 19. November in Paris in Frage gestellt, auf dem der Vertrag unterzeichnet werden soll. Die Gründe: Verhärtungen der sowjetischen Position bei den Wiener VKSE-Verhandlungen, neue Begehrlichkeiten einiger Mitgliedstaaten der Warschauer Vertragsorganistion (WVO) sowie nach wie vor ungelöste Differenzen innerhalb der Nato. Die Einigungsmöglichkeiten der Experten am Wiener Verhandlungstisch sind ausgeschöpft. In intensiven Beratungen, zu denen im Laufe dieser Woche Vertreter der jeweiligen Bündnisstaaten hinzugezogen werden sollen, bemühen sich seit dem Wochenende in Washington Regierungsvertreter von USA und UdSSR um Durchbrüche in den strittigen Fragen. Letzte Gelegenheit für Entscheidungen auf hoher politischer Ebene bietet die New Yorker KSZE-Außenministerkonferenz Anfang nächster Woche.
„Wenn einer der 23 Vertragsstaaten künftig seine bisherige Militärallianz verläßt, dürfen die verbleibenden Bündnismitglieder ihre Waffenbestände bis zur im Vertrag ursprünglich festgelegten Obergrenze aufstocken.“ Mit dieser neuen Forderung bescherte der sowjetische Delegationsleiter Grinevski in Wien seinen 22 Kollegen Ende letzter Woche eine böse Überraschung. Konkret: im bisherigen Vertragsentwurf steht zum Beispiel die Obergrenze von jeweils 20.000 Panzern für Nato und Warschauer Vertrag im Gebiet zwischen Atlantik und Ural. Sollte etwa Ungarn demnächst unter Mitnahme der dort etwa 1.000 stationierten östlichen Panzer die WVO verlassen — so das bislang in Wien geltende stillschweigende Einverständnis — gelte für die Rest-WVO künftig die Obergrenze von 19.000 Panzern. Nach Moskaus neuem Vorschlag sollen die verbleibenden WVO-Staaten — das hieße de facto die UdSSR — das östliche Arsenal jedoch wieder auf 20.000 Panzer aufrüsten dürfen. Mit dem Verlangen stößt Moskau bei den Nato-Staaten und innerhalb der WVO ebenso auf völlige Ablehnung, wie mit der kurz zuvor erhobenen Forderung, wonach „mindestens 40 Prozent“ der nach einem VKSE-Abkommen im Gebiet zwischen Atlantik und Ural verbleibenden Waffen auf sowjetischem Territorium stationiert dürfen. Umgerechnet auf das WVO-Gebiet bedeutete dies einen Anteil von 80 Prozent. Bislang galt in in Wien der Konsens, daß ein einzelner Vertragsstaat künftig „maximal 30 Prozent“ in jeder der vom Abkommen erfaßten Waffenkategorie haben darf. Verschärft wird dieser Streit dadurch, daß Rumänien, Polen und Bulgarien neuerdings einen höheren Anteil an den in der WVO verbleibenden Waffen fordern. Bulgarien begründet diese Forderung sowohl damit, daß die UdSSR aus Zentraleuropa abgezogene Streitkräfte an ihrer Südostgrenze massieren könnte, wie mit einer angeblichen gemeinsamen Bedrohung durch die — verfeindeten — Nato-Staaten Türkei und Griechenland. Auf einer Sondersitzung am letzten Wochenende in Prag konnte der Militärausschuß der WVO in diesen Fragen keine Einigung erzielen.
Wiener Unterhändler aus Ost und West führen die jüngsten „Verhärtungen“ der Moskauer Position auf wachsenden Einfluß der sowjetischen Militärs zurück. Im März 89 war in Wien eine Einigung auf das VKSE-Verhandlungsziel „gleicher Obergrenzen auf niedrigerem Niveau“ noch möglich angesichts klarer Blockverhältnisse. Nach der deutschen Vereinigung und dem jeweils bilateral vereinbarten Rückzug sowjetischer Streitkräfte aus Ungarn, der CSFR sowie — weitgehend — Polen, ist diese Ausgangslage völlig verändert. So wird die WVO bereits Ende 1991 um die Hälfte unter den im Wiener Vertragsentwurf noch vorgesehenen Obergrenzen für Panzer, Artillerie und Infanteriefahrzeuge in der Kernzone (DDR, Ungarn, CSFR, Polen sowie BRD, Benelux, Dänemark) liegen. Doch der sowjetische Wunsch, einer künftig in dieser Zone existierenden 2:1-Überlegenheit der Nato durch Halbierung der Obergrenzen vorzubeugen, wird von den bisherigen Bündnispartnern nicht unterstützt.
Weiterhin Uneinigkeit besteht über Details der Verifikation eines Abkommens sowie über Moskaus Verlangen, 4.000 östliche Panzer in Zivilfahrzeuge zu konvertieren, anstatt sie gänzlich zu zerstören. Strittig ist nach wie vor die Frage der Einbeziehung von Kampfflugzeugen in ein Abkommen. Intern rechnen die meisten Wiener Unterhändler damit, daß sie aus einem ersten VKSE- Vertrag ausgeklammert werden. Innerhalb der Nato kontrovers sind nach wie vor Kontroll- und Überwachungsregelungen für den Export von Waffen aus dem Gebiet zwischen Atlantik und Ural heraus. Von solchen Regelungen wäre zwar die Rüstungsindustrie in den westeuropäischen Nato-Staaten, nicht aber in den USA betroffen.
Washingtons Delegationsleiter Woolsey bekräftigte in den letzten Tagen, daß US-Präsident Bush nur zum KSZE-Gipfel nach Paris reise, wenn bis dahin ein VKSE-Abkommen vorliege. Eine Verschiebung des Termins gilt als wahrscheinlich.
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