: Die Wismut hält die Daten weiterhin zurück
Meßergebnisse und Krankheitsstatistiken aus den Uranbergbaugebieten unter Verschluß/ Sanierung kostet Milliarden ■ Aus Ronneburg Reimar Paul
Die Stasi-Akten sind nicht die einzigen Dokumente, die im deutschen Vereinigungsprozeß für politischen Wirbel sorgen. Die Frage, was mit den medizinischen Daten und Krankheitsstatistiken der Sowjetisch- Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut geschehen soll, und wer in Zukunft Einsicht in das brisante Material nehmen darf, bewegte am Wochenende die TeilnehmerInnen eines Kongresses über den Uranbergbau in der DDR und seine Folgen. Zu der Tagung waren rund 150 WissenschaftlerInnen und Öko-AktivistInnen aus beiden deutschen Staaten, aber auch hochrangige Vertreter der Wismut und des in Auflösung begriffenen Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS), in die ostthüringische Kleinstadt Ronneburg gereist.
Über die genaue Zahl der in den vergangenen Jahrzehnten an Krebs erkrankten oder gestorbenen Uranbergleute und ihrer Angehörigen bewahrten die Wismut-Manager auch auf wiederholtes Nachfragen Stillschweigen. Der Leiter des betriebseigenen Arbeitshygieneinstitutes, Martin Jönsson, erklärte lediglich, daß sich zwischen 1952 und 1989 6.800 Arbeiter mit Lungen- oder Bronchialkrebs bei den Wismut- Ärzten gemeldet hätten. 5.100 Fälle seien als „entschädigungspflichtige“ Berufskrankheit anerkannt worden. Jönsson räumte ein, daß unter anderem wegen der großen Latenzzeit von Lungenkrebs „natürlich nicht alle aufgetretenen Krankheiten erfaßt“ werden konnten. Endgültige Aussagen über die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Uranabbaus ließen sich ohnehin erst treffen, wenn alle jemals in der Branche Beschäftigten gestorben und ihre Todesursachen analysiert worden seien. Die Bundesregierung hatte Ende Juni in Beantwortung einer Parlamentsanfrage der Grünen ohne weitere Kommentierung den Tod von 61 Wismut-Arbeitern durch ein „strahlungsbedingtes Lungenkarzinom“ bestätigt.
Daß den Wismut-Daten so schwer beizukommen ist, hat mit der Geschichte und Bedeutung dieses Unternehmens zu tun. 1947 von der sowjetischen Besatzungsmacht gegründet und zehn Jahre später, mit einer Fünfprozentbeteiligung der DDR, in eine deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft überführt, entwickelte sich die Wismut schnell zu einem „Staat im Staate“, einem unabhängigen System mit eigenen politischen und sozialen Strukturen. Der Betrieb, der zu Hochzeiten der Uranproduktion in den 50er und 60er Jahren mehr als 100.000 Menschen gut bezahlte Arbeitsplätze bot, hatte eine eigene Parteileitung, eine eigene Polizei und sogar eine eigene Stasi. Die Wismut betrieb in Eigenregie Kaufhallen, Gaststätten und Kulturhäuser. „Betriebssportgemeinschaften“ wie die Fußballmannschaft Wismut Aue waren ebenso Bestandteil des Firmenimperiums wie ein komplettes Sozialversicherungssystem. Zum „Gesundheitswesen Wismut“ gehörten ein knappes Dutzend Bergarbeiterkrankenhäuser und -polikliniken, Ambulatorien in allen Teilbetrieben und drei Sanatorien im Erzgebirge. Die Krankheitsgeschichte der Uranbergleute schrieben ausschließlich Wismut-Ärzte.
Außer den medizinischen Karteien hält die Wismut auch die von ihr in der Vergangenheit selbst erhobenen Meßdaten über die radioaktive Belastung der Region unter Verschluß. Alle Informationen über das mögliche Ausmaß der Verseuchung stammen von „auswärtigen“ Wissenschaftlern. In Ronneburg stellte die Unabhängige Meßstelle des Westberliner „Strahlentelex“ den Kongreßteilnehmern die Ergebnisse ihre Untersuchung vor. Von Mai bis September hatte die Forschergruppe die Radonbelastung von 25 Wohnhäusern in Schneeberg, einer Stadt im Zentrum des erzgebirgischen Uranreviers, gemessen. Das Gas Radon und andere radioaktive Folgeprodukte werden beim Uranabbau freigesetzt. Nur in drei der untersuchten Objekte, so das erschreckende Ergebnis, betrug die Belastung weniger als 250 Bequerel pro Kubikmeter. Acht Wohnungen wiesen mehr als 1.000 Bequerel auf. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik ist ein Kubikmeter Raumluft mit durchschnittlich 50 Bequerel Radon belastet. SAAS-Vizepräsident Walter Röhnsch kündigte für „die nahe Zukunft“ eine „umfassende radiologische Schadenserhebung“ in den Bergbauregionen an. Unter Federführung des Bonner Umweltministeriums soll mit einem ehrgeizigen Langzeitmeßprogramm die radioaktive Belastung der Luft, des Bodens, des Wassers und der Vegetation in dem knapp 10.000 Quadratkilometer großen Areal ermittelt werden, das vom westlichen Erzgebirge bis nach Ostthüringen reicht.
Das im Mai von Töpfer-Beamten, Wismut-Kadern und SAAS-Experten festgeklopfte Projekt ist aber nur der Auftakt für ein größeres Engagement der Bundesrepbulik bei der Bewältigung der Hinterlassenschaften aus dem Uranabbau. Bereits im kommenden Jahr soll mit dem Abtrag der riesigen Abraumhalden und der Verfüllung der Tagebaubetriebe und Schlammabsetzbecken begonnen werden. Die Kosten für die vollständige Sanierung der Region — soweit daran in Anbetracht der radioaktiven Verseuchung überhaupt zu denken ist — bezifferten Wismut-Vorständler in Ronneburg mit „mindestens 15 bis 20 Milliarden Mark“.
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