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Kleine Nestbeschmutzerrede

■ Günther Grass über das häßliche Zustandekommen der deutschen Einheit DOKUMENTATION

Am Dienstag trafen sich beim Kongreß „Deutschland in Europa“ unter anderem Delors, Späth, Mitterrand, Süssmuth und Wirtschaftsvertreter, um über etwaige Gefahren eines einigen Deutschlands zu palavern. Allgemeiner Tenor der Pariser Veranstaltung: es wird schon alles gutgehen. Lediglich Dany Cohn-Bendit und Günther Grass mischten nachdenkliches Moll in den Jubelchor. Wir dokumentieren geringfügig gekürzt die Abschrift der frei gehaltenen Rede von Grass.

Man könnte das, was ich zu sagen vorhabe, als eine kleine Nestbeschmutzerrede bezeichnen. Dieser Ausdruck wird in Deutschland geläufig, sobald ein Deutscher außerhalb der Landesgrenzen kritisch über sein eigenes Land spricht. Das habe ich vor.

Wir haben in der Bundesrepublik, in Deutschland, ohne etwas dafür getan zu haben, die Gunst der Stunde erleben dürfen, uns einigen zu dürfen. Das ist Gorbatschows Verdienst, das ist das Verdienst der Freiheitsbewegung Solidarność, der Charta 77 — erst in den letzten Monaten begann in der DDR sich auch eine Opposition zu gruppieren, und sie hat auf sehr undeutsche Art und Weise, sogar mit Humor, eine unblutige Revolution zu Wege gebracht. Diese Gruppe, die damals rief „Wir sind das Volk“, steht heute im politischen Abseits. Das politische Geschehen in der DDR wird bestimmt von einer ehemaligen Blockpartei, die über 40 Jahre mit der SED linientreu zusammengearbeitet hat: der CDU. [...] Brandts Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ ist widerlegt worden. Da wächst nichts, das wuchert, es wird zusammengenagelt, zusammengeschustert. Und zwar über die Interessen und Möglichkeiten der Menschen hinweg.

Da wächst nichts zusammen — es wuchert

Ich habe mich seit Mitte der 60er Jahre mit dem Thema befaßt und daraufhingewiesen, daß wir doch um Gottes Willen nicht wieder den Fehler machen sollten, auf dem Einheitsstaat zu bestehen. Nur in einer relativ kurzen Periode seiner Geschichte war Deutschland ein Nationalstaat, mit zwei Weltkriegen, mit grauenhaften Folgen für die Deutschen und ihre Nachbarn. Und auf der anderen Seite können wir in unserer Geschichte beobachten, daß wir im Sinne eines Föderalismus, einer kulturellen Vielfalt viel besser gefahren sind. Ich schlug vor, und mit mir einige andere, mit einer Konföderation zu beginnen, langsam die DDR auf den Schock der freien Marktwirtschaft vorzubereiten, die Infrastruktur dort zu stärken, den Ostmark- Kurs durch die Bundesbank zu stützen, dann zu einer Währungsunion zu kommen und schließlich aus einer Konföderation zu einem Bund deutscher Länder zu erwachsen. Mit einer starken föderalistischen Struktur, stärker als in der Bundesrepublik. Nichts dergleichen geschieht. Es ist jetzt schon die föderalistische Struktur geschwächt, der Einheitsprozeß geht an den Ländern und auch an den Parlamenten vorbei. Wir können jetzt schon in der Bundesrepublik einen Verlust an demokratischer Kultur beklagen.

Gegen den guten Rat von Wirtschaftsexperten hat man die Währungsunion durchgesetzt, hat eine marode Planwirtschaft von einem Tag auf den anderen mit der DM und der Marktwirtschaft konfrontiert, so daß dort auch die Betriebe unrettbar kaputtgehen, die man mit einer vorsichtigen Politik hätte sanieren können. [...] Heute herrscht in der Noch- DDR Angst vor, in der Bundesrepublik Mißmut. Freude will nicht aufkommen. Der Bundeskanzler muß Glockenläuten anordnen, damit so etwas Ähnliches am 3. Oktober geschieht. Wir sehen, daß nach dem Fall der Mauer eine Zweiteilung zwischen den Deutschen stattfindet, die Folgen haben wird, zu verantworten von Herrn Kohl, Herrn Waigel, Haussmann und anderen: eine soziale Teilung. Wir werden Deutsche erster und zweiter Klasse haben, und nicht nur auf vier, fünf Jahre, weil die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln schon jetzt festgeschrieben sind. Nicht DDR-Deutsche werden dort die Besitzer sein, sondern Westdeutsche oder ausländische Investoren. Und — was nicht nur Deutschland betrifft, sondern den polnischen Nachbarn: die westeuropäische Wohlstandsgrenze rückt von der Elbe an die Oder vor, in Gestalt der DM. Das ist für Polen, das in seinem jetzigen Zustand wirtschaftlich und politisch instabil ist, eine Gefährdung.

Gibt es Gründe, die Deutschen zu fürchten? Ich möchte eine Gefahr von vornherein abstreiten: es wird keine militärische Gefahr geben. Den Deutschen ist wie den Japanern, den beiden großen Verlierern des letzten Weltkrieges, die Lust am Krieg vergangen. Sie haben gelernt, auf andere Art und Weise Macht auszuüben. Im wirtschaftlichen Bereich. Dennoch läßt sich auch diese Gefahr relativieren. Denn wenn man sieht, auf welch dilettantische Art die westdeutsche Wirtschaftsmacht die Währungsunion umgesetzt hat, wenn sie sich jetzt verschuldet, um keine Steuererhöhungen ausschreiben zu müssen (was richtig wäre), so läßt sich jetzt schon voraussagen, daß durch diese Art von Verschuldung die westdeutsche Finanzierung für lange Zeit gebunden wird. [...]

Für die Polen hingegen ist dieses Vorrücken der DM von der Elbe an die Oder eine tatsächliche Gefahr. Auch wenn jetzt von beiden deutschen Parlamenten die Oder-Neisse- Grenze endlich anerkannt worden ist, wird doch in Zukunft das westliche Polen, das heißt die ehemaligen deutschen Provinzen Schlesien und Pommern, insbesondere die Grenzstadt Stettin, der DM ausgeliefert sein. [...]

Was spricht dagegen, in guter Nachahmung der Verhältnisse nach 1945 einen Marshall-Plan zugunsten von Osteuropa neu aufzugelegen? Und daß man das nicht allein den Deutschen überläßt, sondern diese Initiative von der EG ausgeht. Vielleicht wäre es auch gut, wenn nach den Erfahrungen der letzten Monate Franzosen und Deutsche gemeinsam ein Gesetz beschließen, nach dem Waffenlieferungen in Krisengebiete, überhaupt Waffenlieferungen an andere Länder grundsätzlich verboten werden. Wir reden sehr viel über die Golfkrise, und ich meine, es ist eine schlimme Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Franzosen, daß beide Länder auf eine scheußliche Art und Weise dazu beigetragen haben, den Irak zur Kriegsmacht erster Ordnung aufzurüsten.

Der häßliche Prozeß zur Einheit

Wobei die Deutschen noch besondere Schuld trifft. Es sind wieder einmal Deutsche gewesen, die Giftgasfabriken produktionstüchtig, vom Ausdenken der Anlagen bis zur Produktion, nicht nur nach Libyen, sondern auch an den Irak geliefert haben. Wenn es im Golf zum Krieg kommen sollte, was heute oder morgen geschehen kann, könnte es dem Irak gelingen, gezielte Raketen und Granaten auf Tel Aviv, auf Jerusalem abzuschießen, und somit wäre die deutsche Verantwortung für die Verbrechen der Zeit des Zweiten Weltkrieges verlängert in die Gegenwart hinein, abermals eine Generation belastet. [...] Da droht in der Tat deutsche Gefahr. Es ist kein Nationalismus, kein wiederaufkommender Neonazismus. Es ist ungehemmte Profitgier, die offenbar das Maßhalten verhindert.

Was ich mir wünsche, und was diese latenten, oder möglichen oder auch nur ausgedachten Gefahren, die von Deutschland ausgehen könnten, betrifft, ist, daß wir dennoch, nachdem die Einheit nun so häßlich zustandekommt, in Deutschland die Kraft finden mögen, uns zu zwingen, das Grundgesetz und seinen Artikel 146 ernst zu nehmen, der im Fall einer Einigung eine neue Verfassung verlangt, die dem Volk vorgelegt werden muß. Mit Hilfe einer neuen Verfassung mit dem Ziel, einen Bund deutscher Länder zu errichten, könnte in der Tat, durch eine Stärkung des Föderalismus, diese Ballung in der Mitte Europas relativiert werden zu unseren Gunsten und zugunsten unserer Nachbarn.

Ich habe mich über vier Jahrzehnte hinweg im Sinne von Jürgen Habermas als Verfassungspatriot begriffen. Das ist kein Patriotismus, der auf Vaterland aufbaut, auf irgendwelche ewigen nationalen Werte, sondern auf eine sehr gute, lebbare und praktizierbare Verfassung, das Grundgesetz. Wenn nun die deutsche Einheit aufgrund eines Verfassungsbruches zustandekommt, ein bloßer Anschluß stattfindet und nicht ein Ausbau des Föderalismus, dann wird dieser neue Staat einen Verfassungspatrioten weniger haben.

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