Weiß-gelbe Brücke über der Neiße

Schlesier bei Görlitz wollen keine Sachsen sein/ PolitikerInnen sehen die Stadt als Brücke in einer „europäischen Region“/ Initiativgruppe will „Schlesien nicht den Rechtsradikalen überlassen  ■ Aus Görlitz Detlev Krell

Noch ist Polen offen. Über der Straße der Freundschaft ballt sich eine gesamtdeutsche Abgaswolke. Unentwegt schiebt sich die Autokolonne auf die Neißebrücke zu. Auch die Fußgänger stehen Schlange vor dem Grenzer, der müde Pässe abnickt. An einer Futterkrippe ist ein Schild „Wechselstelle“ angeschlagen. Für 10 DM gibt es heute 60.000 Sloty. Drüben, in Zgorzelec, warten schon die HändlerInnen. Korbmöbel, Jeans und Klunker sind die Renner beim Sommerschlußverkauf an der Friedensgrenze.

Still und schmutzig fließt die Neiße. Hüben die schwarzrotgoldenen, drüben die weißroten Grenzsteine sind von der Brücke aus kaum zu sehen. Jahrzehntelang galt die Brücke als politisches Symbol. Noch heute feiern meterhohe Pappschilder die unverbrüchliche Freundschaft. Wird die Neiße künftig trennen, oder kann die Brücke verbinden? Diese Frage steht ganz vorn auf der Themenliste im Görlitzer Wahlkampf. Und es ist nicht zu übersehen, daß diese Frage weiß-gelb gefärbt ist — die Fahne Schlesiens weht von den Görlitzer Häusern.

Kanzler Kohl weiß schon eine Antwort. Auf einer CDU-Wahlkundgebung in dieser Woche begrüßte er „alle Schlesier“. Er wünsche sich von ganzem Herzen freundschaftliche Beziehungen zwischen den benachbarten Völkern. Niemals dürfe die Neiße eine Wohlstandsgrenze markieren. Was im Westen normal sei, daß Deutsche und Franzosen auch auf der anderen Seite der Grenze ihre Arbeit und ihr Glück finden, das solle auch im Osten möglich sein. Allerdings erwähnte er mit keinem Satz die bereits sanktionierte Visum-Mauer, die polnische BürgerInnen schon heute diskrimiert und die Deutschen in Torschlußpanik über die Grenze treibt. Es werde, wie Kohl immerhin ankündigte, in dem neuen deutsch-polnischen Vertrag ein spezielles Kapitel für regionale Fragen beiderseits der Grenze enthalten sein. Denn, und nun spannte der Kanzler den Bogen vom Görlitzer Obermarkt bis zur Zweidrittelwelt und zu den tropischen Regenwäldern, „die moralische Kraft deutscher Politik hänge auch davon ab, ob wir zu internationaler Solidarität fähig sind“.

Mehr als freundschaftliche Verlautbarungen war Görlitz mit seinen 100.000 Einwohnern den alten Machthabern nicht wert. Die Straßenzüge aus der Gründerzeit, die Plätze und Gassen mit Bürgerhäusern aus Renaissance, Barock, Klassizismus sind bewohnte Ruinen. Tausende Görlitzer leben vor den Toren der Altstadt, in der Betonwüste Königshufen oder in Eigenheimsiedlungen zwischen den Industriebauten. Dem Zerfall der Stadt folgt nun die Agonie der Betriebe. Einst an die Peripherie zentralgeleiteter Kombinate angepappt, stehen die kleinen Werke heute vor dem Ruin. Jetzt argwöhnen die Görlitzer, wieder an den Rand des Landes, in die wirtschaftliche Sackgasse gedrängt zu werden. Allzu sächsisch klingt es aus der Landeshauptstadt. Vor diesem Hintergrund, und nicht nur, weil Heino hier sang, leben die alten schlesischen Traditionen wieder auf.

„Wir wollen kein Bundesland Schlesien“, betont Detlef Rauh, Vorsitzender der Unabhängigen Initiativgruppe Niederschlesien. Der 29jährige arbeitslose Nachrichtentechniker distanziert sich ganz entschieden vom Revanchismus der Mitteldeutschen Nationaldemokraten. Wenn auch von denen mehr Plakate in der Stadt kleben als vergangene Woche Anhänger zur Kundgebung kamen, sei doch zu befürchten, daß das Thema Schlesien wieder den Rechtsradikalen zugespielt wird, wenn die demokratischen Kräfte es weiter ignorieren. Die Volkskammer habe „alle Bemühungen, diesem Stück Schlesien im zukünftigen Land Sachsen eine gewisse Selbständigkeit zu geben“, unterlaufen. Schlesien soll wieder die Vermittlerrolle übernehmen, die es jahrhundertelang erfüllt hat.

Die Initiativgruppe spricht von der „Respektierung der Grenzen“ zu Polen und zur CSFR. Dr. Manfred Feder, der aus Frankfurt/Main nach Görlitz kam, um im Kuratorium Niederschlesien Politik zu machen, vergleicht die Schlesier in Sachsen mit den Franken in Bayern. Das polnische, deutsche und böhmische Schlesien könnte, immer bei Anerkennung der Grenzen, zu einer Euro-Region Schlesien zusammenwachsen und einen Keim bilden für ein künftig geeintes Europa. Görlitz sieht sich in dieser Euro-Region als Brücke. Es sei „bedauerlich, wenn Schlesien immer rechtslastig gebraucht wird. Das ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, weil dann nur Rechtsradikale übrigbleiben, die sich dieser nie verlorengegangenen Identität annehmen.“ Auch in dem favorisierten „Gohrischen Entwurf“ der sächsischen Landesverfassung fehlt jeder Bezug zu Schlesien. „Die Menschen hier sind aber froh, daß sie sich nach 40 Jahren wieder offen als Schlesier bekennen können. Sie wollen keine Sachsen sein. Keiner Regierung kann daran gelegen sein, daß hier eine Krisenregion entsteht.“ Das Kuratorium erwartet von der gesamtdeutschen Regierung, daß Mittel der Zonenrandförderung umgeleitet werden in die vernachlässigten Gebiete an der östlichen deutschen Grenze, damit die Menschen dort wohnen bleiben. Schlesien soll in die offizielle Politik.

So sieht das auch die örtliche SPD. Geschäftsführer Michael Prochnow gibt aber zu bedenken, daß die Nachbarschaft von Polen und Deutschen mehr Fragen stellt als die der Identität Schlesiens. Völkerfreundschaft in ihrer europäischen Dimension tragen die meisten BürgerInnen mit, „aber wenn es den einzelnen trifft, wird es unpopulär“. Unverhohlener Haß sei keine Ausnahme. Aber eine Abschottung nach Osten wäre tödlich für die Region. Die SPD tritt in ihrem Wahlkampf für den Ausbau der Infrastruktur und, wie die CDU, für deutsch-polnische Wirtschaftsprojekte ein. Dazu gehört die Verlängerung der Autobahn von Bautzen bis nach Wroclaw. Eine Kooperation mit Polen über die Lieferung von Steinkohle an die ostdeutschen Kraftwerke würde, nach Meinung des CDU-Spitzenkandidaten Biedenkopf, auch Görlitz und dem ostsächsischen Schienenfahrzeugbau helfen. Zugleich sollten die beiden Hochschulen in Grölitz und Zittau so erweitert werden, daß dort polnische Techniker ausgebildet werden könnten.