: Aktionen statt Flucht
■ Betr.: Aktionen zum Giftgas-Transport, taz 10.-14.9.90
In der Zeit vom 13.-19.9. verließen viele BürgerInnen wegen des Giftgastransportes die Stadt. In der Presse wurde über 800-1.000 demonstrierende SchülerInnen berichtet. Diverse öffentliche Einrichtungen arbeiten, um ihren Protest gegen den Transport kundzutun, nur eingeschränkt. Diese Flucht wird von ihnen als politische Aktion verstanden oder mit der individuellen Angst legitimiert.
In gewissen Situationen ist es ein wirksames Mittel, sich zu entziehen. In Bezug auf den Giftgastransport scheint mir die Reaktion jedoch eher im Sinne der Herrschenden zu sein. Erstaunlicherweise berichten die Medien detailliert über den Verlauf des Transportes. Schon dies sollte ein Grund für ein Mißtrauen sein! Ich glaube, es handelt sich um ein gut inszeniertes Ablenkungsmanöver. Die Presse hat ihre „Katastrophe“, die Bevölkerung ist beschäftigt und glaubt, sie könne am politischen und sozialen Leben teilnehmen... Und: Der Aktionismus ist auf eine Woche begrenzt, so daß danach wieder aufgeatmet werden kann. Im schlimmsten Fall, also einer möglichen Explosion des Giftgases, könnten sich Männer und Frauen individuell schützen, d. h. mit getränkten Tüchern in der Wohnung verbarrikadieren. Das ist zwar nicht angenehm, aber aber immer noch einfacher, als über Lösungen oder Aktionen in Bezug auf die schleichende Vergiftung des Trinkwassers, das größer werdende Ozonloch, das Baumsterben, den nuklearen Abfall, die Gentechnologie oder den bröckelnden Tscernobyl-Reaktor nachzudenken. Auch über diese Realitäten, die uns genauso direkt betreffen wie der Giftgastransport, informieren uns die Medien. Warum demonstriert niemand dagegen? Warum schließen die öffentlichen Einrichtungen nicht, bis man/frau wieder in Sicherheit leben kann? Ist schon solch ein Gewöhnungsprozeß eingetreten? Oder wären Aktionen dagegen einfach nur weniger spektakulär? Sind die Erfolgsausichten zu gering? Ich kann diese Aktionsform der Flucht in dieser Situation nicht verstehen. Wohin kann man/frau denn überhaupt noch flüchten? Die Reiseroute zum Mond ist noch nicht so gut ausgebaut.
Dreisterweise spreche ich sogar den Müttern mit Kindern ihre Legitimation der Flucht, die individuelle Angst, ab. Wenn Mütter so viel Angst haben, verstehe ich nicht, woher sie den Mut nehmen, überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. Ansonsten sind Gefühle ja auch wichtig und richtig, nur macht es mich immer wütend, wenn sie eingesetzt werden, um sich einer rationalen Diskussion zu entziehen. En Gutes hat dieser Giftgastransport dennoch: Es wird mal wieder heftig über politische Aktionsformen diskutiert. Na denn: Bis zum nächsten Mal! Iris Gruslewski
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen