piwik no script img

Aprilwindin Nepal

Dichtung und Demokratie am Himalaya  ■ Von Michael Hutt

Als ich vor zwei Jahren in Nepal war, ging ich mit einem Freund an einem warmen Sommerabend noch einmal auf die Straße. Wir hatten den ganzen Abend vor dem Fernseher gesessen und eine satirische Show angeguckt, die aus Anlaß des Kuh-Festes gesendet worden war — einer Zeit in Nepal, in der traditionell die Herrscher straflos verspottet werden dürfen. Katmandu war offenbar schon im Bett — immerhin war es nach 22 Uhr in dieser würdigen alten Stadt —, aber die Ruhe auf der Ringstraße war irgendwie unnatürlich. Am Straßenrand aufgereiht standen bewaffnete Polizisten, alle zehn Meter einer. Wir spazierten die Straße entlang, und jeder dieser Polizisten wandte sich zu uns um, sobald wir näher kamen und fragte uns aus: wer wir sind, wo wir wohnen, wohin wir um diese Zeit noch zu gehen hatten — und machte dann klar, daß wir gefälligst von der Straße bleiben und am besten ganz verschwinden sollten. Als wir in die Häuserschatten zurücktraten, tauchte aus einer Seitenstraße eine Prozession schwerer Limousinen auf und fuhr auf der neu asphaltierten Straße davon: König Birenda und sein Gefolge kehrten in den Palast zurück. Mein junger nepali1 Gefährte sagte kein Wort — offenbar waren solche Erlebnisse nichts Seltenes —, aber ich fragte mich damals, ob das Verhalten der Polizei nicht doch Ressentiments hervorruft.

Nach den Ereignissen der letzten Monate glaube ich das tasächlich. Nur wenige der 200.000 ausländischen Touristen, die Nepal pro Jahr besuchen, scheinen zu wissen, daß sich hinter der exotisch-paradiesischen Fassade des Königreiches ernsthafte politische Spannungen verbergen. Bis auf ein kurzes Zwischenspiel in den fünfziger Jahren sind politische Parteien das gesamte 20.Jahrhundert über verboten gewesen. Die Literatur des Landes, und besonders die Lyrik, wurde wichtigstes Ausdrucksmittel für oppositionell Denkende. Da jeder gebildete nepali es früher oder später einmal im Leben mit dem Dichten versucht, gibt es selbstverständlich auch vieles, das politisch neutral ist: rhapsodische Gesänge auf die Schönheit der Natur und patriotische Bekenntnisse, die gern und zahlreich von den nationalen Medien verbreitet werden. Aber alle ernsthafteren Schriftsteller Nepals haben sich auf die eine oder andere Weise politisch eingemischt — und viele sind für ihre Einmischung bestraft worden.

Um die Gegenwart zu verstehen, muß man ein wenig in die Vergangenheit zurückgehen, in die nepali Geschichte, in der die Hoffnung auf politische Veränderungen mit so deprimierender Regelmäßigkeit enttäuscht worden ist. Die Ereignisse der letzten Monate haben ihre Ursachen in früheren Erschütterungen: der Sturz des Rana-Regimes 1950, der „königliche Staatsstreich“ von 1960, das Referendum von 1980 und eine kurzlebige Serie von Bombenanschlägen gegen die Monarchie von 1985.

Die Herrschaft der Rana

Zwischen 1846 und 1950 wurde Nepal von Erb-Premierministern regiert, die aus der Gruppe des wenige Familien umfassenden, sogenannten Rana-Verbandes stammten. Dieses System wurde durch Jang Bahadur Kunwar mit einem Blutbad etabliert, in dem er rivalisierende Familien vernichtete und die jahrelange innere Zerrissenheit des Landes beendete. Die Macht der Monarchie wurde neutralisiert und die Entwicklung einer Infrastruktur — Schulen, Krankenhäuser, Straßen — ein Jahrhundert lang von einem Regime verzögert, das jeden Ansatz von Reform und Fortschritt als Bedrohung seiner Autorität empfand.

In Katmandu, dem Regierungssitz, lebten die Rana in Glanz und Gloria, und trotz ihrer Angst vor ausländischer Beeinflussung ihrer Untertanen entwickelten sie eine bizarre höfische und militärische Kultur, die den Einfluß Großbritanniens spiegelte — eines Landes, in dem sich Jang Bahadur bei seinem Besuch 1850 hatte beeindrucken lassen. Der Schriftsteller Diamond Shamsher beschrieb 1973 in seinem erfolgreichen historischen Roman Der weiße Tiger das Leben der herrschenden Elite. Und obwohl der Roman die Intrigen und Rivalitäten schildert, die sich nach dem Tod Jang Bahadurs 1877 abspielten, wurde der Text als versteckte Kritik der zeitgenössischen Verhältnisse in Nepal gelesen. Die folgenden Zeilen konnten ebensogut als Kommentar auf das Nepal von 1973 gelten: „...der Engländer, gewöhnt an Demokratie und Freiheit, sah Nepal durch sein Fernglas: ein Nepal, das hungrig und nackt war, ein taubes, stummes und blindes Nepal, ungebildet und unterentwickelt.“

Die Freiheit der Literatur war durch das Rana-Regime stark eingeschränkt, und 1913 wurde zur Kontrolle und Zensur aller Veröffentlichungen eine Körperschaft gebildet, das Gurkha-Komitee2 für Sprache und Publikation. Grundsätzlich jedes Manuskript mußte dem Komitee vorgelegt werden. „Wird ein Buch ohne Genehmigung durch das Komitee veröffentlicht, zahlt der Verlag eine Strafe von 50 Rupies. Erregt der Inhalt des Buches Anstoß, so wird es eingezogen und eine Bestrafung erfolgt entsprechend der Entscheidung des Komitees.“

Diese Regelung hatte fatale Folgen. Beispielsweise wurde 1920 Krishnalal Adhikari zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, weil er im Vorwort zu einem Buch über Maisanbau geschrieben hatte: „In Nepal werden ausländische Hunderassen gehätschelt und gefördert, obwohl nur einheimische Rassen nützlich sind, wenn es um den Schutz vor Dieben geht...“. Dies, so das Komitee, stelle eine nicht zu duldende Kritik an der Regierung dar. Jeder Schreibende, der streitbare Äußerungen machen wollte, mußte es versteckt tun, und zwischen der Regierung und der gebildeten Schicht bestand eine Art Konsens, daß offene politische Stellungnahmen nicht geduldet werden. Unter diesen Bedingungen wurden unzählige Bücher verboten, und viele Autoren kamen ins Gefängnis, weil sie das Versteckspiel nicht mitmachten.

Ein großer Teil der nepali-Literatur dieser Zeit ist zuerst in Zeitschriftenform erschienen, besonders in den nordindischen Städten, die von der Rana-Zensur nicht behelligt werden konnten. Viele Schriftsteller fingen an, mit den klassischen Konventionen der alten Literaturtradition zu brechen, andere benutzten die alten Formen weiter, behandelten jedoch neue Themen. Das Rana-Regime hatte die alte Ordnung aufrechterhalten, in der gesellschaftliche und berufliche Positionen sich strikt nach dem Kastensystem richteten. Den untersten Kasten war es sogar untersagt, Schuhe zu tragen und ihre Hausdächer mit Schindeln zu decken. Der poetische Ausdruck viraha — die mystische Sehnsucht nach Vereinigung mit dem fernen Liebespartner oder Gott — wurde als Ersatzbotschaft für die Sehnsucht nach Abschaffung des Kastensystems benutzt. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Muna-Madan, ein fünfzigseitiges Gedicht aus dem Jahre 1936 von Laksmiprasad Devkota, das bis heute zu den beliebtesten Büchern des Landes gehört.

1950 - 1960: Zehn Jahre Demokratie

1950 wurde die Rana-Herrschaft durch ein Bündnis zwischen Palast, der neugegründeten Nepali-Congress-Partei und einer Handvoll unzufriedener Adeliger beendet. Bereits 1960 jedoch kehrte König Mahendra, selbst ein gefeierter romantischer Dichter, zum Verbot politischer Parteien nach Art der Rana zurück. Die „Revolution“ von 1950 war damit fast vollständig rückgängig gemacht: die indische Nehru-Regierung unterstützte eine Kompromißlösung, und viele Rana-Familien, die meisten durch Heirat der persischen Schahfamilie verbunden, kehrten an die Macht zurück — und in den Genuß ihrer Reichtümer und Privilegien. Trotz intensiver politischer Kämpfe hinter den Kulissen versuchte König Birendras Enkel, König Tribhuvan, während dieser ganzen zehn Jahre, ein System parlamentarischer Demokratie zu errichten.

Die erste Regierung mit einem Minimum an demokratischer Glaubwürdigkeit war die der Nepali-Congress-Partei, geführt von B.P.Koirala, einem Politiker, der auch Romane und Kurzgeschichten schrieb. Die Partei errang bei den Wahlen von 1959 einen erdrutschartigen Sieg: Teil ihres Wahlprogramms war, die Macht des Monarchen einzuschränken und die Abschaffung der althergebrachten Tradition, Regierungsgünstlingen große Landgüter zuzuweisen. Solche Vorhaben trafen natürlich auf heftigen Widerstand von Seiten der alten Elite. 1960 schließlich setzte König Mahendra angesichts des anwachsenden politischen Chaos' die Verfassung außer Kraft und warf die führenden Mitglieder der Congress-Partei ins Gefängnis. Mahendra verkündete, daß die parlamentarische Demokratie ein fremdes System sei und in Nepal unbrauchbar, und daß die Congress-Partei nicht in der Lage gewesen sei, die nationale Einheit oder Recht und Gesetz aufrechtzuerhalten. Nach diesem „königlichen Staatsstreich“ von 1960 wurde das Panchayat-System der „parteifreien Demokratie“ verkündet, das mit einigen kleinen Veränderungen bis 1990 überlebte. Diesem System lag ein altes Hindu-Politikprinzip3 zugrunde, aus dem sich eine seltsame Mischung aus demokratischer Teilhabe und absoluter Königsherrschaft ergab. Die Bewohner eines Dorfes wählten Räte, die dann Bezirksräte wählten, die ihrerseits wieder Regionalräte wählten und so weiter. Jedoch waren von den 140 Mitgliedern der Nationalen Versammlung nur 112 gewählt, der Rest vom König ernannt worden. Außerdem benannte und entließ der König seine Minister alleinverantwortlich, so daß das Parlament schließlich nur mehr Erfüllungsgehilfe des Palastes war. Obwohl Entwicklung (bikas) in dieser Zeit eine gebräuchliche Vokabel in Nepal war und auf dem Gebiet des Transport-, Gesundheits- und Erziehungswesens tatsächlich viel passierte, blieb die politische Opposition in den Untergrund verbannt.

Ein Gefühl der Enttäuschung

Ihre Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der Revolution von 1950 brachten die Dichter Nepals in vielen Bildern und Symbolen zum Ausdruck. 1914 hatte der Rana- Premier Juddha Shamsher die öffentliche Exekution dreier Mitglieder einer verbotenen politischen Partei auf einem Paradeplatz im Zentrum Katmandus angeordnet; nach 1960 erschienen auffallend viele Gedichte zum Thema Märtyrertum. Diese Männer waren längst Teil des nationalen Mythos; südlich des Paradeplatzes sind am „Tor der Märtyrer“ ihre Büsten eingelassen; am „Tag der Demokratie“ wird ihrer alljährlich gedacht. Jetzt aber handelten viele Gedichte davon, daß das Opfer dieser Märtyrer umsonst gewesen sei:

Als diese berühmt gewordenen Verse mit dem Titel Die Fidel 1961 erschienen, hatte auch der Dichter Mohan Koirala seiner Enttäuschung über die Folgen der Revolution von 1950 literarisch Ausdruck verliehen. Die Hauptfigur seines Erzählgedichts ist ein junger fahrender Sänger, eine im ländlichen Nepal geläufige Figur, denn dort herrscht Analphabetismus und mündliche Überlieferung spielt eine große Rolle4. Die Lieder der fahrenden Sänger beschäftigen sich oft mit politischen Ereignissen. Koiralas Sänger repräsentiert die unterdrückten Klassen Nepals, zu deren Gunsten, nach Auffassung des Dichters, die Revolution gemacht worden war, und von der sie jedoch nicht in angemessener Weise profitieren konnten. Die Schlußstrophe des Gedichts enthält seine politische Botschaft, und der Schlußvers zitiert in Sanskrit auf ironische Weise die Slogans der gesellschaftlichen Reform und des geistigen Aufschwungs:

Die in den letzten Jahren des Rana- Regimes herangewachsene Dichtergeneration war intellektuell und ideologisch schlecht darauf vorbereitet, die beispiellosen Veränderungen zu kommentieren, die jetzt stattfanden. Ihr Gefühl der Enttäuschung war deutlich, aber ihre sentimentalen und konventionellen Kompositionen entsprachen immer weniger den Zeitläuften. Nach der Einweihung der Tribhuvan-Universität 1959 und der Gründung vieler Colleges und Hochschulen wuchs jedoch nach und nach eine neue Generation von nepali-Dichtern heran. Wenngleich sich diese jungen Frauen und Männer auch weiterhin auf die traditionelle Kultur beriefen, so kam doch — durch ihre Kenntnis literarischer und philosophischer Strömungen im Ausland — ein deutlich veränderter Ton auf.

Zwischen diesen beiden Generationen, deren jüngere erst in den späten fünfziger Jahren mit dem Schreiben begann, gibt es einzelne herausragende Autoren. Einer der bekanntesten war der 1936 geborene Bhupi Sherchan, der als Jugendlicher zu einem glühenden Kommunisten geworden war. Er nahm den Schriftstellernamen „Sarvahara“ (Proletarier) an und veröffentlichte zwei Bände mit revolutionären Gedichten; sie sind heute in Nepal nicht mehr erhältlich. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten kam er 1960 ins Gefängnis, wurde dann jedoch 1969 soweit rehabilitiert, daß sein dritter Gedichtband Ein blinder Mann auf einem Drehstuhl einen prestigeträchtigen Literaturpreis erhielt. Bis er 1989 starb, war er nicht nur Mitglied der Königlichen Akademie geworden, sondern hatte auch den König mit Lobpreisungen überhäuft. Seine Biographie illustriert ein nepali Sprichwort, wonach die politische Haltung eines Dichters drei Phasen durchläuft: garam (heiß, umstürzlerisch), naram (milde, kompromißbereit) und haram (selbstzufrieden).

Die nepali-Literatur der sechziger und siebziger Jahre war zum großen Teil experimentell, Anspielungen auf zeitgenössische Politik machte man wieder vage und indirekt. Zumindest galt dies für fast die gesamte Lyrik; lediglich in Prosatexten finden sich deutliche Bezüge auf die politischen Verhältnisse der Zeit. 1962 veröffentlichte Ramesh Bikal die berühmt gewordene Geschichte Das Lied der neuen Straße. Ein blinder Bettler hat seinen traditionellen Bettlerplatz auf der Haupteinkaufsstraße im Zentrum Katmandus. Eines Tages wird er von der Polizei vertrieben, damit der Weg frei ist für eine Prozession zur Begrüßung eines ausländischen Staatsgastes in der Hauptstadt.

Hinter ihnen fuhr ein Jeep auf, ein Lautsprecher plärrte. Irgendjemand rief irgendetwas über Demokratie... Bürger... befreundete Nation... ein Gast... mit offenem Herzen willkommen heißen... Das Geschrei aus dem Lautsprecher wurde leiser und verschwand schließlich in der Ferne. „Was ist los, Sani?“, fragte der Blinde, drehte sich zu einem der Ladenbesitzer um und fragte ihn das gleiche. „Du sollst deine Frau zur Frauenversammlung schicken, damit sie eine Rede halten kann über Demokratie.“ Plötzlich füllte sich die Luft mit dem Lachen der Umstehenden. „Oh, Demokratie, wie lange ist das schon her? Das haben wir doch schon seit Jahren, seit Jahren!“

In den sechziger Jahren waren die jungen Schriftsteller stark beeinflußt von Existentialismus, Marxismus und Freud, aber der dominierende Ton ihrer Texte war der einer sozialen und kulturellen Entfremdung und nicht Ausdruck politischer Rebellion. In den nächsten zehn Jahren gab es immer weniger Intellektualismus und literarisches Versteckspiel, zum Teil, weil die gebildete, aber arbeitslose Schicht junger Erwachsener größer wurde, zum Teil aber auch wegen der enormen Popularität eines Dichters wie Bhupi Sherchan.

Sherchan hatte die moderne Gesellschaft Nepals mit großer Heftigkeit angegriffen. Und seine Wut hatte sich mit nahezu unkontrollierbarer Energie Luft gemacht in Dies ist ein Land von Aufruhr und Gerüchten — einem Aufschrei patriotischen Zornes gegen die Korruption und den Mangel an Intellekt, den er als die größte Schwäche seines Landes betrachtete.

Die Straßengedicht- Bewegung

Die erste große politische Krise 1979 meisterte König Birendra mit einem Geschick, das selbst seine loyalsten Anhänger überraschte. In der Hauptstadt, und zunehmend auch außerhalb, organisierten Studenten Massendemonstrationen; offiziell ging es dabei um Proteste gegen Bhuttos Exekution im benachbarten Pakistan, aber jeder wußte, daß es in Wirklichkeit um den Protest gegen die Exekution zweier nepali Anführer ging, die einige Wochen zuvor stattgefunden hatte. Die brutalen Polizeieinsätze gegen die studentischen Demonstrationen waren keineswegs erfolgreich, im Gegenteil gab es daraufhin noch größere Märsche. Es kam zu ernsthaften Unruhen, in deren Verlauf die politische Unfreiheit zum wichtigsten öffentlichen Thema wurde.

Birendra entkräftete den Aufruhr durch die Ankündigung, daß es im Mai 1980 ein nationales Referendum geben solle, bei dem sich das Volk zwischen zwei Alternativen der politischen Machtausübung zu entscheiden habe: für das parteienlose Panchayat-System oder ein Mehrparteiensystem. Man sicherte außerdem zu, daß bis zum Zeitpunkt des Referendums politische Betätigung nicht behindert werden würde.

Die neue liberale Atmosphäre führte in Katmandu zur Bewegung der „Straßengedichte“. Junge Dichter rezitierten ihre Verse auf der Straße; Haupttreffpunkt war der heilige Bobaum an der neuen Straße der Hauptstadt. Auf den Straßen wurden Gedichtsammlungen und neue Literaturzeitschriften in großen Auflagen verkauft, die voller propagandistischer Texten waren und das Mehrparteiensystem forderten. So gab es zum Beispiel die Sammlung Der Ruf von Mutter Nepal, vierzehn recht mittelmäßige Gedichte von Himalaya Lohani. Innerhalb von vierzehn Tagen waren tausend Exemplare verkauft, eine zweite Auflage erschien sofort. Die Bewegung der Straßengedichte war tatsächlich mehr eine politische Kampagne als eine literarische Bewegung.

Die Autoren selbst beschrieben ihre Arbeiten als „die Freisetzung der Stimme der Geschichte, die neunzehn Jahre unterdrückt worden ist“. Ihre Gedichte waren einfach und direkt, und trotz des schließlichen Mißerfolgs der Kampagne auf politischer Ebene stärkte diese Erfahrung bei vielen Schriftstellern den Wunsch nach einer Literatur, die sich den einfachen Menschen auf der Straße nicht verschließt.

Das Ergebnis des Referendums brachte dem herrschenden System eine knappe Mehrheit (55 gegen 45 Prozent). Für den status quo hatten vor allem die Bewohner der Bergregionen gestimmt und nur wenige Menschen aus den städtischen Zentren und den stärker politisierten, ländlichen Talregionen. Natürlich hatte das Referendum die Oppositionsparteien gespalten in der Frage von Boykott oder Teilnahme, so daß ein Teil der Niederlage auf das Konto dieser Uneinigkeit geht.

Dennoch konnte die Regierung Nepals jetzt behaupten, daß das Panachayat-System ein authentisches Mandat vom Volk habe — wobei sie natürlich gerne die Tatsache übersah, daß dieses Mandat sich hauptsächlich auf die arme und größtenteils analphabetische Landbevölkerung stützte und mit den städtischen und gebildeteren Schichten der Gesellschaft nichs zu tun hatte.

Mit der Entwicklung eines mehr oder weniger westlichen Bildungssystems jedoch war Nepal bereits seit längerem zu diesem Widerspruch verdammt, der sich zwischen den Erwartungen und Hoffnungen einer wachsenden gebildeten Schicht und der harschen Realität auftut — der Realität einer der ärmsten Nationen der Welt.

Daß die Studenten und Intellektuellen von Katmandu nicht die Nation repräsentierten, konnte dieses eine Mal 1980 erfolgreich demonstriert werden; als sie aber jetzt, zehn Jahre später, eine zweite, besser vorbereitete Kampagne begannen, wurde dies schon schwieriger. Die jüngste Schriftstellergeneration Nepals ist radikaler und weniger optimistisch als ihre Vorgänger. Besonders die Lyriker haben mit dem Symbolismus und Archaismus der alten Tradition gebrochen und zu einer einfachen, kraftvollen Sprache gefunden. Krishna Bhushan BallasAprilwind ist ein deutlicher Ruf nach radikaler politischer Veränderung — und eine beeindruckende Vorhersage. Das Gedicht stand schon 1983 in einer Anthologie, die vom größten Verlag Nepals herausgegeben worden war.

Die Lage der Bevölkerung wurde in Nepal in den achtziger Jahren zunehmend schlechter. Das Bevölkerungswachstum, dessen Folgen vor allem von der ländlichen Subsistenzwirtschaft getragen werden mußten, führte zu schwerem Raubbau und Umweltschäden und zu einer Auswanderungswelle in Richtung Indien. Und die einzigen greifbaren Resultate der ins Land strömenden ausländischen Hilfsgelder waren eine massive Ausweitung der Staatsbürokratie und ein Bauboom in Katmandu. Einige Teilbereiche der Wirtschaft wurden derart abhängig von illegalen Geschäften und Schmuggel, daß Beschlagnahmen auf Flughäfen des Auslandes den sofortigen Kursverfall der nepali Rupie zur Folge hatten.

Politische Opposition kam vor allem von den Studenten, die sich damit oft genug den Brutalitäten, einschließlich Folterungen, von übereifrigen Polizeikommandanten aussetzten. Ein Gesetz zur „Inneren Sicherheit und zum Schutz gegen Verrat“ reichte aus, eine Person, die parteipolitischer Aktivitäten verdächtigt wurde, für drei Jahre ohne Prozeß hinter Gitter zu bringen; Zeitungen wurden regelmäßig zensiert und verboten. Wie schon 1979 wurde auch 1990 das Gebäude von 'Gorkhapatra‘, Nepals größter Zeitung, von Demonstranten angegriffen, und eine der ersten Konzessionen von Birendra an die Demokratie-Bewegung bestand darin, das Verbot von elf einheimischen Publikationen aufzuheben und ausländische Zeitungen zu erlauben.

Den Bürgern Nepals wurde das Recht auf „legitime Kritik“ an ihrer Regierung zugestanden, allerdings unter der Auflage, „keine politischen Parteien und Organisationen mit Parteizielen zu gründen“; ein Paragraph des oben erwähnten Sicherheitsgesetzes von 1961 (Raj Kaj) verbot außerdem jegliche Kritik am König und der königlichen Familie.

Die Atmosphäre im Königreich veränderte sich schlagartig durch das Wiederaufleben eines nie geklärten Streits mit Indien. Ein wichtiger Vertrag, der den Handels- und Grenzverkehr an der gemeinsamen Grenze regelte, lief aus und Indien reagierte mit verständlicher Irritation auf die Annäherungsversuche Nepals an China (es hatte einige Monate zuvor Waffenlieferungen aus Peking gegeben und Li Peng war in Katmandu bei einem offziellen Besuch wie ein Held empfangen worden): zwölf von vierzehn Grenzübergängen wurden daraufhin von indischer Seite geschlossen. Das bedeutet, daß elementare Waren — ganz besonders Heizmaterial — umgehend rationiert werden mußten und der Preis für Grundnahrungsmittel sofort dramatisch anstieg. Koiralas Gedicht Meine nepali Worte, gebrochen, zerstreut (siehe Kasten) stammt aus den Anfangsmonaten dieser Blockade. Viele glaubten noch, daß die Krise ein wichtiger Anstoß in Richtung wirtschaftlicher Autonomie für das Land sein könnte. Aber die Devisenreserve Nepals war längst dazu benutzt worden, aus Drittländern auf umständlichsten Wegen das Nötigste ins Land zu holen. Dieser Anfall von Nationalismus in Regierungskreisen war wirtschaftlich gesehen nahezu selbstmörderisch; während die Krise im Inneren in jeder nur denkbaren Weise gegen die Opposition benutzt wurde, zahlte man (der Londoner Werbeagentur) Saatchi & Saatchi eine geheimgehaltene Summe dafür, daß der westlichen Welt die Not Nepals vor Augen geführt wurde. Die Nepali-Congress-Partei wird im allgemeinen als pro-indisch eingeschätzt; die Regierung setzte ihren lautstarken anti-indischen Nationalismus dagegen.

1990 — Der Aprilwind

Zwischen 1987 und Ende 1989 waren die politischen Reden der Opposition lauter geworden und die Polizei reagierte mit immer brutalerer Einschüchterung. Für einen Außenstehenden war es nicht einfach zu erkennen, was sich da genau zusammenbraute. Die Korruptheit der Regierungskreise war allgemein bekannt, man spielte offen darauf an, daß der König in Schmuggelgeschäften und beim Beiseiteschaffen ausländischer Finanzhilfe seine Hand im Spiel habe. Kaum ein Schriftsteller war für den Status quo, aber die Abhängigkeit von der königlichen Gunst ist in Nepal eine so unabänderliche Realität des Lebens, daß nur wenige gegen die Lüge eines angeblich demokratischen Systems vorzugehen wagten — eines Systems, in dem nichtgewählte Mitglieder des Palastsekretariats fast unbegrenzte Macht ausüben. Keiner machte für die Zustände in Nepal offen den König verantwortlich; höchstens wurde gelegentlich bedauert, wie „schlecht beraten“ oder „fehlgeleitet“ er doch sei. Der königlichen Familie Schlechtes nachzusagen, wird von den Nepali nahezu instinktiv vermieden, denn schließlich gilt der König, zumindest bei der ländlichen Mehrheit der Untertanen, als Inkarnation des Gottes Vishnu, und für nahezu jeden anderen wenigstens als Symbol der Einheit der nepali Nation, die von einem Ahnherr dieses Königs, dem König von Gurkha, hergestellt worden ist.

All das sollte sich Anfang 1990 radikal ändern. Ende 1989 tat sich die verbotene Opposition angesichts der verheerenden Lage wieder zusammen. Die bis dahin gespaltenen linken und kommunistischen Fraktionen formten die Vereinigte Linksfront und riefen gemeinsam mit der Nepali-Congress-Partei zu einer „Bewegung für die Wiederherstellung der Demokratie“ auf. Ihre Forderungen waren nicht neu: Zulassung von politischen Parteien, Entlassung politischer Gefangener, konstitutionelle Monarchie. Und auch die Mittel waren die bekannten: Streiks, Märsche, Massenversammlungen usw. Was allerdings neu war, war der Schneeballeffekt und die Geschwindigkeit, mit der die Bewegung sich vom studentischen Kern auf die neue akademische Schicht ausbreitete und am Ende auch das Durchschnittsbürgertum ergriff. Plötzlich agitierten Seite an Seite mit den Studenten Ärzte, Beamte, ja selbst Flugpiloten. Schriftsteller marschierten durch die Straßen — mit schwarzen Knebeln im Mund. Prompt wurden mehrere Tausend politische Aktivisten verhaftet und jede Demonstration im Keim erstickt. Schon im Februar und März sind in Katmandu, Patan und Bhaktapur 40 bis 50 Menschen ums Leben gekommen.

Zu Beginn der Krise schien der König in den Fängen einer Clique zu sein, zu der sein Bruder, seine Mutter und die Königin gehörten. Seit Beginn der Blockade beklagten die Leute die „Untätigkeit“ des Königs. Im gesamten Tal von Katmandu erschienen Poster an den Wänden, die den König mit einem Vorhängeschloß vor dem Mund und die Königin im Besitz des Schlüssels darstellten. Die Kritik an der Königin wurde immer bösartiger: Gerüchte über ihre Macht und ihr immenses persönliches Vermögen wurden laut.

In den Städten Patan und Bhaktapur ging es radikaler zu. Die meisten Bewohner gehören zur Minderheit der Newaren. Die Newaren besitzen eine eigene Sprache und Kultur, und tatsächlich war es ihr König Malla, der vor dem Einmarsch durch Birendras Vorväter im 18.Jahrhundert die kunstvollen Städte der Talregion bauen ließ. Die Ressentiments der Newaren gegen den Gurkha-Einmarsch bestehen weiter: in Bhaktapur, einer kommunistischen Hochburg, wurde ein Exgenosse, der zum Panchayat übergelaufen war, noch 1988 gelyncht. In Patan errichtete die Bevölkerung Barrikaden gegen die Aufstandspolizei und erklärten ihre Stadt zur „demokratischen Zone“.

Die Politik der absoluten Kompromißlosigkeit wurde solange aufrechterhalten, bis die Stimmung der Öffentlichkeit sich derart heftig gegen den Palast wandte, daß die Monarchie ernsthaft gefährdet war. Am 6.April schließlich geschah etwas Einmaliges in der Geschichte Nepals: Tausende marschierten zum Palast, 90 Menschen wurden erschossen. Die harte Linie läßt sich jedoch nicht länger durchhalten. Nepal ist zu abhängig von ausländischen Finanzhilfen und einer blühenden Tourismusindustrie, als daß es sich anhaltende zivile Unruhen und schwere Menschenrechtsverletzungen leisten könnte. Außerdem ist eine militärische Intervention durch den Nachbar Indien nicht ausgeschlossen.

An diesem Punkt schien Birendra zu Kompromissen bereit. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, Oppositionsführer aus der Haft befreit und das Parteien-Verbot aufgehoben: man begann mit Verhandlungen. Was jahrzehntelang nur im Flüsterton gesagt worden war, das erschien jetzt groß auf Plakaten und Spruchbändern. Die jüngeren Aktivisten, die an der Spitze der Bewegung standen, beschuldigten die älteren Oppositionsführer, zu milde und kompromißbereit zu sein und meinten, König Birendra sei es nur daran gelegen, Zeit zu gewinnen.

Am 17.April wurde eine Zwischenregierung vereidigt, die überwiegend aus Vertretern der bisherigen Opposition besteht — dennoch blieben Zweifel bestehen, inwieweit der König tatsächlich eingelenkt hatte. Radikalere Gruppen waren empört, als der neue Premierminister K.P.Bhattaraiu seine Kabinettsliste dem König zur Bestätigung einreichte und über vom König selbst ernannte Regierungs-Mitglieder.

Für die meisten Menschen in Nepal ist die Position des Monarchen die entscheidende Frage. Die Einführung eines genuin demokratischen Systems bedeutet immerhin mehr als nur einen kleineren oder größeren politischen Kurswechsel. Es bedeutet für ein an das System königlicher Herrschaft und Patronage gewöhntes Volk eine ganz wesentliche kulturelle und psychologische Veränderung. Obwohl die „Bewegung zur Wiederherstellung der Demokratie“ eindeutig von den Ereignissen in Osteuropa inspiriert war — 1989 veröffentlichte Mohan Koirala ein Gedicht mit dem Titel Die Berliner Mauer ist gefallen — so sind ihre Aussichten auf ähnlich rasche Erfolge doch sehr viel geringer. Durch den Akt der „Inkraftsetzung“ einer neuen Verfassung ist der König wiederum akzeptiert als einer, der die Macht abgegeben hat. Will er jedoch zu einem „konstitutionellen Monarchen“ werden, wie er inzwischen behauptet, dann kann nicht er die Verfassung in Kraft setzen. Zusätzlich gibt es ernste Zweifel an der Fähigkeit der neuen Regierung, das Land wirksam zu leiten. Die meisten ihrer Mitglieder haben fast ihr ganzes Leben im Untergrund verbracht und sehen sich jetzt mächtigen Lobbies gegenüber: der alten Armee, einer Polzei mit weitreichenden Kompetenzen und vor allem einer gebildeten Schicht junger Menschen — ihr eigenes Klientel —, die am Ende vielleicht nur mit der völligen Abschaffung der Monarchie zufrieden sein werden.

Die Gedichte „Aprilwind“, „Die Fidel“ und „Dies ist ein Land von Aufruhr und Gerüchten“ werden in dem für Anfang 1991 zur Veröffentlichung geplanten Band „Himalayan Voices; An Introduction to Modern Nepali Literature“ (University of California Press) publiziert.

1Für die Bevölkerung Nepals sind drei Bezeichnungen im Gebrauch: Nepali, Nepalesen, Nepaler; entsprechend gibt es Verwirrungen mit der Bezeichnung der Sprache — Nepalisch? Nepalesisch? — und mit allen Adjektiven — nepalesische Literatur? nepalesische Landschaft? etc. Ich habe mich für den — dem internationalen Gebrauch nahekommenden — Ausdruck Nepali resp. nepali entschieden. Die Schreibweise der (Staats-)Sprache ist eindeutiger geregelt: sie heißt Nepáli.

2Das Volk der Gurkha bildet die Mehrheit — und die herrschende Schicht — in Nepal; es ist ihre Sprache, die nepáli genannt wird. Andere Völker — mit eigenen Sprachen — sind u.a. die Tamang, Gurung, Newaren, Magaren und Limbu; die Minderheiten bilden zusammen etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung.

3Hinduismus ist die Staatsreligion Nepals, Minderheitenreligionen sind Buddhismus und Islam.

477 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen