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Präsident Gorbatschow droht den Betrieben

■ Präsidialdekret sieht hohe Vertragsstrafen und Gefängnis bei Verstoß gegen Lieferverpflichtungen vor/ Umsetzungschancen sind zweifelhaft/ Rückkehr zur Tauschwirtschaft: Landwirtschaftliche Produkte gegen Maschinen?

Moskau(ap/afp/taz) - Präsident Gorbatschow hat am Donnerstag zum ersten Mal von den Sondervollmachten Gebrauch gemacht, die ihm am Montag vom Obersten Sowjet der Union zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise übertragen worden waren. Per Dekret wurden alle sowjetischen Staatsbetriebe aufgefordert, ihren Lieferverpflichtungen für die letzten drei Monate dieses Jahres und fürs kommende Jahr nachzukommen. Für den Fall der Nichtbeachtung droht das Dekret Vertragsstrafen von bis zu 50 Prozent des Warenwertes an. Auch mit dem Besuch des Staatsanwaltes und seiner Hilfsorgane sollen die Betriebe rechnen müssen. Ausdrücklich besteht Präsident Gorbatschow darauf, daß Souveränitätserklärungen einzelner Republiken und deren nachfolgende Rechtsakte — zum Beispiel die Kontrolle über den Verkauf von Bodenschätzen durch die russische Föderation — von der Erfüllung eingegangener Verpflichtungen auf keinen Fall entbinden. Den Betrieben wurde eine Frist von 30 Tagen gesetzt und finanzielle Überbrückungshilfen in Aussicht gestellt.

Gorbatschows Verordnung stellt einen aussichtslosen Versuch dar, der zentrifugalen Tendenzen in der Ökonomie Herr zu werden. Im jetzt laufenden Planjahr waren die Betriebe noch an weitgehende Auflagen der Zentrale über Vertragsabschlüsse, das Sortiment der Produkte und über die Zulieferung von Rohstoffen und Vorprodukten gebunden. Die Auflagen aber erwiesen sich als fiktiv. Denn einzelne Unternehmen nahmen Vertragsstrafen in Kauf, wenn anders die Produktion nicht aufrechtzuerhalten war oder auch, wenn günstigere Abschlüsse winkten.

Diese in Planwirtschaften schon immer gängige Praxis ist durch „horizontale“ Kontrakte zwischen Unionsrepubliken oder sogar Städten wie Moskau und Leningrad verallgemeinert und gleichzeitig legalisiert worden. Letztes Beispiel hierfür war das Treffen von 9 der ehemals 15 Sowjetrepubliken am Donnerstag in Tallinn, wo über die zukünftigen ökonomischen Beziehungen unter Umgehung des Moskauer Wasserkopfs verhandelt wurde. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern stehen Gorbatschow jetzt keine Zwangsmittel mehr zur Verfügung, um die ökonomische Direktivgewalt der Zentrale durchzusetzen. Daher rührt auch sein Appell an die Belegschaften der Betriebe, „zusammen mit den Betriebsleitern für die Einhaltung der Verträge zu sorgen“.

Ebenfalls am Donnerstag hat die Regierung Ryschkow ein Dekret „Notmaßnahmen zum Ernteabschluß und zu Aufkäufen von Getreide, Gemüse, Früchten und Kartoffeln“ erlassen. Nach bewährter Manier werden Industriearbeiter für die Ernte dienstverpflichtet, auch wenn dies bedeutet, „daß die Alktivitäten einiger Betriebe zeitweise ruhen müssen“. Das Innenministerium wird angewiesen, gegen alle vorzugehen, „die sich erpresserisch oder räuberisch an landwirtschaftlichen Produkten bereichern“. Damit könnten diejenigen Kolchosen und Sowchosen gemeint sein, die sich bisher weigern, ihre Ernte an den Staat zu verkaufen. Ihnen wurde jetzt eine Frist bis zum 1. November gesetzt.

Die Regierung droht aber nicht nur — sie lockt auch. Angeboten wird der direkte Tausch landwirtschaftlicher Produkte gegen Maschinen. Damit gesteht die Regierung Ryschkow ein, daß der Rubel als Zahlungsmittel in weiten gersellschaftlichen Bereichen außer Kurs gesetzt ist. Christian Semler

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