Das Heben des Steins mit der Linken

■ Eine Ausstellung über die Geschichte der Arbeit in Hamburg

Ein Löffel Zucker wiegt fast nichts. Auch von dem Kilopaket, das sich die Hausfrau oder der Hausmann in den Schrank stellt, ist noch kein Brett durchgebrochen. Aber als Zweizentnermasse, in pralle Säcke gepackt, hat der Zucker schon manchem Hafenarbeiter den Rücken gekostet. Die Geschichte des Komforts ist zugleich eine Geschichte der Arbeit und ihrer Belastungen. Das Hamburger Museum der Arbeit, seit Januar das siebte Museum der Hansestadt, hat eine Ausstellung zum Thema „Arbeit — Mensch — Gesundheit“ zusammengestellt.

Paradoxerweise wird über Arbeitsbelastungen erst nachgedacht, seitdem es den ArbeiterInnen und Angestellten relativ gut geht. Vorher war das Leben eher von Infektionskrankheiten, Unfällen und der miserablen Wohnsituation bedroht. Als der Arbeitsmarkt sich konsolidierte, und die Unternehmer nicht mehr für jeden totgeschufteten Tagelöhner einen neuen einstellen konnten, setzte eine Diskussion über die Belastungen ein.

In unserer Vorstellung ist Arbeit immer noch körperliche Arbeit. Das spiegelt sich auch im Lohnsystem durch Einrichtungen wie „Schwerstarbeiterzulage“ und „Leichtlohngruppen“. Zur Illustration des Bereichs „Köperliche Arbeit“ wählten die Hamburger AusstellungsmacherInnen naheliegende Beispiele: Den Warenumschlag im Hafen (Stauer) und den industriellen Hausbau (Maurer).

Das Maurerhandwerk entwickelte sich während der industriellen Revolution von einem Allround- Bauberuf zur Spezialistentätigkeit. Folglich entstanden um das Mauern herum andere Fach- und Hilfsarbeiten: das Steinetragen, das Verfugen und Verputzen. Besonders die Stein- und Mörtelträger waren extremen Belastungen ausgesetzt. Zwei Zentner waren die gewöhnliche Last, aufgeschichtet auf ein einfaches Brett. Damit stiegen sie auf Leitern oft drei bis vier Stockwerke hoch.

Obwohl die Maurer höherwertige Arbeit leisteten, blieben sie von Berufskrankheiten nicht verschont. Im Akkord führten sie die selben Bewegungen etwa 800mal pro Tag aus: das Heben des Steins mit der Linken und der Kelle mit der Rechten. Je größer die Steine im Lauf der Bauentwicklung wurden, desto mehr wurden Hand und Arm belastet. Aus dem Material der Berliner Krankenkassen um 1890 geht hervor, daß durchschnittlich vier von zehn Maurern krank waren.

Heben, Schleppen und Aufschichten war das eigentliche Metier der Hamburger Hafenarbeiter. Auch in dieser Branche blieben die Dauerschäden durch einseitige Arbeit lange unbeachtet. Die Gewerbeaufsicht und der gewerkschaftliche Kampf konzentrierten sich bis zum Ersten Weltkrieg auf Unfallverhütung. Neben dem enormen Gewicht der einzelnen Packteile setzten den Arbeitern vor allem punktuelle Belastungen zu. Beim Zusammentragen von Säcken zu größeren Ladungen turnten die Schauerleute ohne sicheren Stand auf der Ladung herum. Beim Werfen mußten sie der Wirbelsäule extreme Verdrehungen zumuten. Um 1914 war die Verladekapazität „rein von Hand“ erschöpft, die Arbeiter standen sich im Schuppen und an Deck buchstäblich auf den Füßen herum. Dann begann der Prozeß der Mechanisierung, an dessen Ende der Containerumschlag steht. Bei der Installation neuer Technik ging es um Leistungssteigerung, Bequemlichkeit und Gesundheit folgten erst an zweiter Stelle.

Auch die sogenannten leichten Arbeiten fordern ihren Tribut von den Beschäftigten, vor allem Frauen. In der Ausstellung sind drei Stationen aufgebaut: das mechanisierte Büro, der Einzelhandel und die Altenpflege. In den Verwaltungssälen der Zwanziger Jahre spielte sich ein Verdrängungskrieg auf zwei Schauplätzen ab. Zum einen ersetzten Frauen die bisher männlichen Buchhalter. Parallel dazu mußten die handgeschriebenen Register den Buchungsmaschinen weichen. Der Lärm der Schreibzimmer und die Monotonie der Arbeit führten bei vielen Frauen zu chronischen Kopfschmerzen, Müdigkeit und Magenkrankheiten.

Männliche Berufsverbände führten einen — aus heutiger Sicht sexistischen — Abwehrkampf mit dem Argument, Frauen seien den Belastungen in der modernen Buchhaltung eben nicht gewachsen. Gleichzeitig mußten Rationalisierungsexperten wie der Berliner Corbin Hackinger zugeben, daß Frauen an den Maschinen aufgrund ihrer Feinmotorik den Männern überlegen waren. Die ganze Diskussion um Lärm, Monotonie und Arbeitshetze verengte sich in den Dreißiger Jahren auf die Konstruktion ergonomisch geformter Bürostühle.

Zweischneidig ist auch die seit der Jahrhundertwende zunehmende Berufstätigkeit der Frauen im Handel. Einerseits hatten Verkäuferinnnen ein höheres Sozialprestige als Fabrikmädchen, was vielen jungen Arbeiterinnen Aufstiegschancen brachte. Dafür mußten sie mit Krampfadern und Fußleiden vom langen Stehen zahlen. Heute bringt das Waren-Wuchten über der Scannerkasse manche Kassiererin zur Weißglut. Jede neue Technologie kommt offenbar als Schädling auf die Welt und muß erst einmal gezähmt werden. Martin Lehrer

Hamburger Museum der Arbeit, Maurienstr. 19, 2000 Hamburg 60, Aussstellung Arbeit — Mensch — Gesundheit, noch bis zum 11. November.