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„Die Mauer wird an die Grenze verlegt“

Görlitz (dpa) — In einem gemeinsamen Appell haben der Oberbürgermeister von Görlitz, Lechner, und des polnischen Zgorzeler, Wojtkow, die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski gebeten, zumindest im polnisch- deutschen Grenzbereich auf die Visumpflicht zu verzichten.

„Die Mauer wird jetzt an die Grenze verlegt“, bedauert Wojtkow. Zusammen mit den anderen Mitgliedern des Stadtrats von Zgorzeler ist er zu den Vereinigungsfeiern nach Görlitz eingeladen. Aber er kann nicht gehen. Vom 3. Oktober an braucht er ein Visum, und das hat er nicht.

Ohnehin ist die Reisefreiheit schon jetzt nur einseitig: DDR-Bürger können ohne weiteres über die Oder und Neiße, während die Polen eine offiziell bestätigte Einladung brauchen. Auf die Dauer macht das böses Blut. Nicht ohne Genugtuung verweisen die ausgesperrten Polen auf die deutschen Einkaufstouristen. „Wir schreiben nicht an unsere Läden: ,Nur für Polen‘ und lassen uns keine Ausweise zeigen, wie die es uns gegenüber getan haben“, meint eine junge Frau. „Sollen sie doch kommen und kaufen.“ Am letzten Wochenende kamen 93.000 Einkaufstouristen nach Zgorzelec mit seinen 37.000 Einwohnern. Diesmal werden es wahrscheinlich noch viel mehr.

Die Marktwirtschaft macht es möglich: Versorgungsengpässe gibt es nicht. Es wird einfach mehr Brot und Butter bestellt. Außerdem kaufen die Deutschen vor allem bei den fliegenden Händlern, wo sie mit Mark bezahlen. In den Läden sind die Polen unter sich, denn dort werden nur Zlotys akzeptiert.

Es gibt Schwierigkeiten mit der Müllbeseitigung, zertrampelten Rasenflächen und verstopften Straßen. Trotzdem würden die Stadtväter ein Ende des Handels bedauern. Die Löcher, die die Rezession in den Stadtsäckel gerissen hat, werden durch die Standgebühren der Händler wenigstens zum Teil wieder gestopft. Auf die Dauer bringt der Strom auch für Zgorzelec ein bißchen mehr Wohlstand und belebt die Initiative der Bürger.

Alle Beteiligten in Görlitz und Zgorzelec hoffen, daß nicht das letzte Wort gesprochen ist, wenn sich am 3.Oktober der Vorhang senkt. Ein kleiner Lichtblick ist der zum 1.November vereinbarte kleine Grenzverkehr mit der benachbarten Tschechoslowakei.

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