Nicht Opfer, sondern Täter!

Auszüge aus einem Brief an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR  ■ Von Florian Havemann

Nun ist die ganze Angelegenheit nach dem Obersten Gericht also bei Ihnen gelandet, bevor ich meinen Einspruch dagegen erhoben habe — eine Untersuchungsabteilung des Ministerrates der DDR hat in meinem Namen das Gesuch um eine Rehabilitierung wegen meiner Verurteilung im Jahre 1968 nach dem Paragraphen 106, staatsfeindliche Hetze, gestellt. Doch weder hat diese Untersuchungskommission mir mitgeteilt, daß sie in diesem Sinne für mich tätig geworden ist, noch überhaupt sich jemals mit mir in Verbindung gesetzt. Ich wußte davon nichts — daß dies mein Gesuch sei, davon kann keine Rede sein. Ich selbst sehe nämlich keinerlei Anlaß für eine Rehabilitierung.

Ich wurde 1968 zurecht verurteilt, nach geltendem Gesetz. Ich war geständig, ich wurde nicht nach Indizien unter Beteuerung meiner Unschuld verurteilt. Mein Geständnis war nicht durch Folter oder sonstigen besonderen Druck erzwungen oder durch falsche Versprechungen aus mir herausgelockt worden. Ich wurde alles in allem von der Staatssicherheit im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen korrekt behandelt. Ich bin dort auf Menschen getroffen, die durchaus Verständnis für meine Situation aufbringen konnten, auch in Rücksicht auf mein Alter, war ich doch damals erst sechzehn. Das, was man mir vorwarf, das habe ich wirklich getan. Auch wenn ich die einzelnen Paragraphen des Strafgesetzbuches nicht kannte, ging ich doch davon aus, daß das, was ich tat, um gegen die Intervention der Staaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei zu protestieren, als eine strafbare Handlung angesehen und geahndet werden würde.

Mir war klar, daß es in der DDR kein uneingeschränktes Recht auf freie Meinungsäußerung gab. Ein Fehlurteil liegt nicht vor, und in meinem Falle war auch das Urteil, Einweisung in ein Jugendhaus für ein bis drei Jahre, die einzig mögliche Strafe, so daß man noch nicht mal dem Gericht eine übertriebene, ungerechtfertigte Härte vorwerfen könnte. An meiner Verurteilung ist nichts zu beanstanden.

Die einzige Unkorrektheit in diesem ganzen Zusammenhang war meine plötzliche Haftentlassung nach schon vier Monaten, die vom Gesetz nicht vorgesehen war. Ich konnte als Jugendlicher weder amnestiert noch auf Bewährung entlassen werden, denn ich verbüßte ja offiziell gar keine Strafe, sondern wurde nur einer besonderen Erziehungsmaßnahme zugeführt. Aber, eine solche Ausnahme von der Regel machen zu können, das gehörte ja auch ins quasi-feudalistische System und geschah auf allerhöchste Weisung — ich protestierte dagegen nicht, verständlicher Weise, ich hatte genug vom Knast.

Ich wüßte also nicht, auf welcher Grundlage eine Rehabilitierung für mich überhaupt ins Auge gefaßt werden könnte — wenn nicht auf der der Menschenrechte: daß man sagt, ich hätte nur von meinem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht, als ich mich an der Herstellung von Flugblättern beteiligte. So gesehen, habe nicht ich ein Unrecht, begangen, sondern das Gesetz selbst war ein Unrecht, die ganze DDR ein Unrechtsstaat. Dann wären umgekehrt also alle diejenigen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, die dieses Unrecht zum Gesetz erhoben haben. Ebenso alle diejenigen, die dies Unrecht angewendet haben. Und natürlich auch die, die halfen, eine so ungerechte Strafe zu vollziehen. Das wären dann allerdings sehr viele Menschen und eine Rehabilitation allein des „unschuldigen“ Straftäters ohne eine Bestrafung der eigentlich Schuldigen, das wäre doch nur eine halbherzige Sache, eine feige Inkonsequenz, die, wie so oft, die opportunistischen Mitläufer und Schreibtischtäter schont. Eine solche Rehabilitierung wäre in meinen Augen nur eine Beleidigung, und ich kann nicht verstehen, welche Genugtuung dies dem „Opfer der Willkür“ bringen sollte.

Aber ich fordere weder meine Rehabilitierung, noch erhebe ich darüber hinaus den Ruf nach Rache. Dies alles ist nicht meine Art zu denken, schon von den Voraussetzungen her. Ich glaube nicht, daß die Menschenrechte überall und zu allen Zeiten unbedingte Gültigkeit besitzen.

Das ist eine wesentliche Illusion — schön wär's, so könnte man sagen, aber heute darf man sich noch nicht mal darin mehr ganz sicher sein, wenn doch die mit den Menschenrechten garantierten Eigentumsrechte mit dazu führen könnte, daß, in aller Freiheit, soviel zerstört wird, daß das Weiterleben der Menschheit dadurch in Gefahr gerät. Die Menschenrechte gelten meist nur auf dem Papier, auch in den westlichen Gesellschaften, wo sie aufgestellt und propagiert werden, oft genung und immer wieder. Sie werden nur mehr oder minder gründlich realisiert, nie absolut und für immer, eigentlich nur dann, wenn die Herrschenden glauben, sich diesen Luxus leisten oder gar die Menschenrechte gut zu Propagandazwecken mißbrauchen zu können. Die bittere Erfahrung unseres Jahrhunderts ist es doch gerade, wie schnell die Menschenrechte verschwinden können, wie sie ausgehöhlt werden, jederzeit eingeschränkt durch Sondergesetze, die allen „ehernen“ Verfassungsgrundsätzen widersprechen, und wie leicht sie gänzlich aufgehoben werden können nach Belieben und sogar mit demokratischer Ermächtigung dazu. Die DDR war 1968 der UNO-Menschenrechtskonvention nicht beigetreten. Ein Widerspruch zwischen Verfassung und Gesetz läßt sich dabei nicht entdecken.

All dies war mir auch schon 1968 irgendwie klar, ich besaß jedenfalls nicht die Naivität, mich auf die Menschenrechte zu berufen, ich war mir bewußt, eine strafbare Handlung zu begehen. Ich akzeptierte das bestehende Gesetz, auch wenn ich beabsichtigte, es zu brechen. Ich wollte eine Straftat begehen — ja, ich gebe es zu, daß mir damals, über den Protest gegen die Invasion hinaus, das Begehen einer Straftat selbst als sinnvoll erschien. Ich muß noch weiter gehen: daß dies sogar das eigentlich treibende, das tieferliegende Motiv war und die Intervention nur den geeigneten Anlaß bot. Ich wollte mit einer solchen Straftat „ein Zeichen setzen“, wie ich damals formulierte. Schon die Wortwahl besagt, daß dies keine, im eigentlichen Sinne politische Aktion war. Ein Zeichen wofür? Was wollte ich dadurch symbolisieren? Was damit zum Ausdruck bringen? Als ob das Strafgesetzbuch zur Kommunikation taugen würde... An wen wollte ich mich wenden? So klar mir die äußeren Bedingungen waren, dieses aber, das eigentlich Wichtige, war nur dumpf gefühlt und in Verwirrung bedacht.

Mit dem Abstand der Jahre könnte ich meine Absichten vielleicht so formulieren: daß es einerseits drum ging, den Herrschenden, denen ich mich damals durch den Glauben an den Sozialismus verbunden fühlte, zu demonstrieren, daß sie ebenso ein totalitäres Regime errichtet hatten, wie das von ihnen als ehemalige Widerstandskämpfer und Antifaschisten abgelehnte.

Man muß aber dabei immerhin auch auf einen bedeutsamen Unterschied verweisen: Schließlich wurde ich nicht wie die Geschwister Scholl für ein paar Flugblätter zum Tode verurteilt. Ich meinte auch damals schon den Vergleich mit der Nazi- Zeit nicht als eine Gleichsetzung, ich wollte dies nur als Warnung verstanden wissen — wie rührend, als ob jemand wie Walter Ulbricht oder Erich Honecker überhaupt die Freiheit gehabt hätte und die Möglichkeit, ein anderes System aufzubauen oder es seinen persönlichen Vorstellungen vom Sozialismus gemäß umzuwandeln... Ich wollte aber andererseits auch auf die Opposition einwirken, wie sie damals von meinem Vater, dem Dissidenten Robert Havemann, repräsentiert wurde und über seine Politik der Deklarationen nicht hinausging, die immer nur über den Umweg der westlichen Medien auf die DDR einwirken konnte. Ich wollte einen Weg zur Aktion weisen, zur Aktion innerhalb der DDR. Ich bin damit völlig gescheitert, auch wenn Jahre später die Opposition dann doch noch wirklich aktiv wurde. Ich hatte es damals mit einem lediglich oppositionellen Milieu zu tun, in dem es sich eigentlich gut leben ließ. Ich fühlte eine Verpflichtung, über das Partygeschwätz hinauszukommen, wollte aber wahrscheinlich ebenso ganz persönlich über die Grenzen meiner Herkunft, über die Beschränkung der bürgerlichen Intelligenz als Schicht, hinauskommen. Ich wollte mir jede Aussicht auf eine Karriere verbauen. Meine Straftat, das Gefängnis, die anschließende Lehr- und Arbeitszeit, das hat mich wirklich aus meinem Milieu herauskatapultiert, auch aus der DDR in den Westen getrieben, ohne daß ich mich dann hier hätte jemals wieder sozial eingliedern können... Und insofern war das Ganze von dieser Intention her ein Erfolg, wenn auch ansonsten wirkungslos.

In der Hauptsache aber richtete sich mein Tun gegen den allgemeinen Opportunismus. Ich wußte mich mit der großen Mehrheit der DDR- Bevölkerung in der Ablehnung der Politik der Partei- und Staatsführung einig. Ich wußte jedoch auch, daß von dieser Mehrheit keinerlei Aktion gegen diese Politik zu erwarten war, keinerlei offen geäußerter Widerspruch, sondern umgekehrt nur die opportunistische Zustimmung dazu. Ich wollte so ein Opportunist nicht sein, ich wollte für mich keine Doppelmoral, keine Schizophrenie zwischen offizieller und Privatmeinung. Wenn ich von einem „Zeichen“ sprach, das ich geben wollte, dann kann man das auch so verstehen: daß ich mich selbst deutlich als jemand bezeichnen wollte, der dabei nicht mitmacht. Es ging mir im wesentlichen darum, meine persönliche Integrität zu wahren.

Mein Handeln war von Ehrbegriffen geleitet. Ich muß deshalb auch ganz ehrlich eingestehen, daß es mir nicht völlig gelungen ist, in dieser Situation integer zu bleiben, denn in einem gewissen Sinne benutzte ich ja die Besetzung der Tschechoslowakei als willkommenen Anlaß. Ich mißbrauchte das Leid anderer Menschen für mein Seelenheil, das ist moralisch nicht ganz sauber. Doch mußte ich dies erst sehr viel später erkennen, auch wenn ich es mir deshalb noch lange nicht verzeihen kann. Meine Moral, so paradox das auch ist, hatte etwas Asoziales an sich.

Der Störenfried der bestehenden Ordnung, das war ich und nicht die Ordnungskräfte mit ihrem 99prozentigen Anhang — ich möchte diese Perspektive nicht im nachhinein umgedreht wissen. Ich möchte auch nicht meine Straftat jetzt durch eine Rehabilitation ent- oder umgewertet sehen. Es geht mir dabei nicht um das Problem, daß in der Justiz noch immer die selben Leute sitzen könnten, daß es derselbe Apparat wäre, der mich dereinst anklagte und nun freisprechen möchte. Es ist nicht Mißtrauen, das mich leitet — ich vertraue darauf, daß Sie auch diese Angelegenheit ordnungsgemäß abwickeln würden.

Die Zeiten haben sich geändert, Ihre Dienstbeflissenheit sicher nicht. Ich mache das Ihnen gar nicht zum Vorwurf, ich konstatiere nur, daß es wiederum der Opportunismus wäre, die Anpassung an eine allerdings stark veränderte politische Lage, die sich in dem bürokratischen Akt einer Rehabilitierung bezeugen würde. Gerade gegen diese Art des Verhaltens aber richtete sich doch meine 68er Straftat — wollte ich mich von Ihnen rehabilitieren lassen, ich würde mich im nachhinein selbst verraten.