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Wider die künstlich „heraufgepuffte“ Mark

Fontane-Wanderer können im Brandenburgischen zwischen AKW und klarem See noch wildes Behagen entdecken  ■ Von Helmut Hirsch

Auf einem im letzten Krieg verschollenen Bild von Carl Blechen (Semonenlager am Müggelsee) erkennt der Apotheker, Balladendichter, fahrende Journalist, Kriegsberichter und Erzähler Theodor Fontane die Vorfahren der Märker wieder: „angeglüht von dem Dunkelrot der Flamme, lagern die germanischen Urbewohner des Landes mit einem wunderbar gelungenene Mischausdruck von Wildheit und Behagen.“ Um alles kennenzulernen, was zwischen „Wildheit und Behagen“ die Märker ausmachte, durchwanderte Fontane jahrelang die Gegend zwischen Oder und Elbe. Die Idee dazu war ihm in Schottland gekommen, wo ihm plötzlich Rheinsberg aufleuchtete. Seine fünf Bände „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nannte er schlicht Reisefeuilletons. Hier wollte der gebürtige Neuruppiner hugenottischer Abstammung (also kein Ur-Märker) anwenden, was er in der Welt gesehen und gelernt hatte. In jedem Herrensitz, in jeder Kirche und Kate boten sich ungeahnte Entdeckungen.

Geschrieben wurde „unter Zutun und Hülfe meiner über die halbe Provinz hin zerstreuten Mitarbeiter“. Das waren nicht nur die Nachfahren ehrwürdiger Adelsfamilien. Auch liefen ihm genügend redselige Landpfarrer und vielwissende Garnisionsschullehrer, pausenlos plaudernde Krüger und Küster, Kutscher und Kossäten über den Weg. Er hörte von im Sumpf Erstickten und in der Spree Ertrunkenen, von plündernden Österreichern und Russen im siebenjährigen Krieg, von Brandstiftungen, Epidemien und Kugelblitzen, von Bruder-, Kinds- und Selbstmördern, von Hurenkindern, Hochwasserkatastrophen, Monstergeburten und sogar von Hexenverbrennungen. Das alles barg der vielverschrieene märkische Sand. Nicht allen Erwartungen konnte Fontane gerecht werden, „zu einer künstlichen Größe“ mochte er die Mark nicht „heraufpuffen“. So kam es, daß nicht nur der Adel an den „Wanderungen“ herummäkelte. Auch Lokal- und Hurra—Patrioten fanden sie nicht patriotisch, wissenschaftler nicht wissenschaftlich genug, Fortschrittlern waren sie zu konservativ. Und auch heute sind die Meinungen, bei wachsender Sympathie durchaus geteilt.

Mit Vergnügen sehen wir Fontane die Ruppiner Schweiz und Rheinsberg durchstreifen. In Kossenblatt erinnert er an den malenden Soldatenkönig, der in der Einöde vor der Staffelei seine Gicht absaß. In Pieskow am Scharmützelsee beschreibt er uns anschaulich die seltene Rundlings-Dorfanlage. Wer heute dorthin kommt, pilgert meist zu den Grabsteinen von Käthe Dorsch und Harry Liedtke. Am Stechlin bei Neuglobsow, wo wir die erstaunlich gut erhaltenen Häuser und das noch immer klare Wasser des Sees bewundern können, spielt nicht nur Fontanes bester Roman „Der Stechlin“, hier steht auch das einzige Atomkraftwerk in der Mark. Eine fast unbeschädigte Idylle bietet das Dörfchen Binenwalde. Allerdings versetzten noch kürzlich abdriftende Übungsraketen der Roten Armeee die Anwohner in Schrecken. Damals und heute: Schnurren, Anekdoten und behagliche Wildheiten. Gern mischte sich Fontane in einen vollgestopften Kremser, erlebte dichtgedrängte Landpartien fideler Berliner. Vorbei an Caputh, „das Chicago des Schwielow-Sees“, eilt er nach Werder. Und schon segelt er über den Müggelsee in Richtung Teupitz. Hier, auf dem großen Müggel, soll sich mancher auf eine Weltumsegelung vorbereitet haben. Beliebt sind bei ihm ironische Einsprengsel, auch Effekte mit „Mittelkurs“ und „Eiertanz“ schiebt er unter. Es gibt in diesen „Wanderungen“ interessante und langweilige Kapitel.

Ratschläge auch für Heutige: wer in die Mark reisen will, und das wollen und können jetzt viele, nachdem die Gegend mauerfrei geworden ist, „der muß zunächst Liebe zu Land und Leuten mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit“. Ferner muß der Reisende „mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn“ ausgerüstet sein.

Lehrer und Märker, horcht auf! Komfort hingegen sollte man nicht unbedingt erwarten. „Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt doch vor, und keine Lokalkenntnis, keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im voraus wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht. Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit.“ Vor allem aber empfiehlt uns Fontane einen Beutel mit Geld. „In vielbereisten Ländern kann man billig reisen, wenn man anspruchslos ist; in der Mark kannst du es nicht.“ Worauf es aber ankommt: „Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein, vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den gemeinen Mann zu finden.“

Die Märker haben nicht ganz so viele Tugenden „wie sie sich einbilden, was durchaus gesagt werden muß, da jeder Märker ziemlich ernsthaft glaubt, daß Gott in ihm und seinesgleichen etwas ganz Besonderes geschaffen habe.“ Über das Nüchterne mokiert sich vielleicht nicht nur Fontane, denn leider sind ihm die Leute in der Mark „ohne rechte Begeisterungsfähigkeit und vor allem ohne rechte Liebenswürdigkeit.“ Zeigt sich da etwa die gedämpfte Wildheit der Vorfahren von ihrer stumpfen Seite? Lob aber wird allemal genug verteilt: Pflichtgefühl, Lerntrieb, Ordnungssinn, Sparsamkeit. „Und das sind Eigenschaften, woduch sie's zu was gebracht haben. Im übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben in hervorragender Weise den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen.“

Und heute? Im Sturm der eiligen Vereinigungs-Wende und unter dem Einbruch der D-Mark in die Mark splittert manches ab, brodelt Aggressivität, zerstört neue Wildheit das schon sicher geglaubte Behagen im verendenden Wohlfahrtsstaat. „Wendehälse mit Kugellagern“, hörte ich neulich in der Uckermark eine Frau sagen. Man vermißt schnell noch einmal Grund und Boden, wartet auf Golfplatzbetreiber oder Tankwarte oder überläßt schlachtgewandten Türken ganze Hammelherden.

Die Berliner sind längst keine Märker mehr. Der „richtige Berliner“ besteht aus einer vielstimmigen Mischung. Als eine formende Kraft hebt Fontane das Tabakskollegium Friedrich Wilhelms des Ersten hervor, das zur Schule der Schlagfertigkeit und der Gestesgegenwart wurde, „so daß die Geburtsstätte dieses Berlinertums eigentlich auch wieder in Potsdam zu suchen ist, in Potsdam, aus dem schließlich alles stammt oder doch das meiste.“ Vor dem leuchtenden Hintergrund der friderizianischen Zeit war ihm die wilhelminische, also seine eigne, schwarz. Von den zu Spießbürgern umgemodelten Grenadieren ging vieles ins Berlinertum über. Preußische Disziplin, Selbstgefühl, Auflehnung und gedankglich Opposition, „die vor nichts und niemanden zurückschreckte“. Heute heißt es Herz mit Schnauze: „Ein eigentümliches Etwas, drin sich Übermut und Selbstironie, Charakter und Schwankendheit, Spottsucht und Gutmütigkeit, vor allem aber Kritik und Sentimentalität die Hand reichen, jenes Etwas, das bereits weit über den unmittelbaren Stadtkreis hinaus seine Wirkung tut.“ Fontane nimmt schon vorweg, was inzwischen um sich gegriffen hat, die Märker berlinern. Ein verfitztes Mischgewebe zwischen Stadt und Land. Fontanes Zeitgenosse David Kalisch, der Vater der Berliner Posse, kannte diese märkisch-berlinische Wurschtigkeit und nannte sie: „So schlappisch und so griesgramgreinerlich, so dämlich und so ochsentrampelich, so ächt teutonisch hahnebampelich“.

Ihre Felder haben die Märker im verflossenen Sommer noch nicht angezündet, werden sie ihren von Fontane so hervorgehobenen „Mischausdruck von Wildheit und Behagen“ demnächst allesamt verlieren?

Helmut Hirsch ist Lektor im Verlag „Der Morgen“ und betreut die Reihe „Märkischer Dichtergarten“

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