: Ein Theater ohne Republik
■ Das Deutsche Schauspieltheater Alma-Ata gastierte im »Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur«
In der UdSSR gibt es eine Unionsgesellschaft mit dem gnostischen Namen »Wiedergeburt«, in der sich die für eine kulturelle und territoriale Autonomie kämpfende Bewegung der »Sowjetdeutschen« organisiert hat. »Überall, wo Deutsche in der UdSSR leben, haben sie sich [...] zusammengeschlossen«, wie es im Dokumentationsheft des Deutschen Schauspieltheaters Alma-Ata heißt, »der Partei- und Staatsführung in Moskau die Wiedergeburt der Autonomen Republik abzutrotzen.« »Sowjetdeutsche« im Sinne der Bewegung »sind Menschen deutscher Nationalität, die seit mehr als 225 Jahren nach Rußland ausgewandert sind in der Hoffnung auf eine neue Heimat«.
Besagte wiederzugebärende autonome Republik entstand erst 1924 als Resultat der Oktoberrevolution, existierte allerdings nur bis 1941, als Stalin alle Deutschen als Spione und Diversanten nach Sibirien deportieren ließ. Ungefähr 800.000 Deutsche, die Zahl stammt aus der Dokumentation, sind in den stalinistischen Arbeitslagern umgekommen. Erst 1972 durften die Überlebenden wieder an die Wolga zurückkehren, ohne daß aber die »Staats- und Parteiführung die Wiedergeburt der Autonomen Republik verkündete«.
Soweit, was sich in Zahlen erzählen läßt. Eine Bearbeitung der Geschichte der Menschen bot das Stück Auf den Wogen der Jahrhunderte des Sowjetdeutschen Viktor Heinz, der ersten von drei Inszenierungen des Theaters aus Alma-Ata, die es vom 28. bis 30. September im »Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur« zu sehen gab. Ursprünglich wollte das einzige deutschsprachige Theater in der Sowjetunion politisches Theater machen (»für Zuschauer aller Nationalitäten«), entschloß sich dann aber, »seinem Volk bei der Erhaltung seiner Identität und der Wiedererlangung seiner Rechte beizustehen«.
Der Held Peter Schneider selbst will vom sowjetdeutschen Schicksal nichts mehr wissen, will auswandern und befindet sich auch schon auf dem Flughafen. Aber da wickelt sich eine schöne Fee aus dem Vorhang, sagt, sie sei »seine Erinnerung« und erzählt ihm/uns »seine« Geschichte, die verleugnete, vergessene und scheinbar nutzlose. Die Erinnerung spricht deutsch — von dem, was nicht der Verstand, nur das Herz verstehen kann. Auf der Linie des Agitationstheaters liegt das Inszenierungsprinzip der Einteilung in faßliche Lektionen: Immer wenn der ebenfalls zuschauende Peter Schneider sich für eine ansprechend aufrecht- aufmüpfige Person »einsetzen« mag, kann er »halt!« sagen. Die Szene wird zurückgespult, er tritt an ihre Stelle und kann so gewissermaßen sein Schicksal »einholen«. Ein riesiges Pendel von monströser Plakativität »verdeutlicht« das Verstreichen der Zeit.
Logisch, daß die Erinnerung mit der Zeit einiges ein wenig verschiebt, Unzusammengehöriges ungehörig zusammenbringt. In der Episode aus der Zeit der Zwangskollektivierungen gibt es den wohlwollend- weisen Kommunisten, der alles schon so gut weiß wie wir jetzt, und den miesen Partei-Hardliner. Der hat einen Tatarenbart und sieht aus wie der Untermensch aus dem Osten eben so aussieht. Logisch, was passiert, wenn der seinen natürlichen Instinkten nachgeht. Der Dorfsowjet hat ein kleines Hitlerbärtchen, und die junge Kommunistin aus dem Dorf hat blonde dicke Zöpfe und weiße Söckchen, fast wie ein BdM- Mädel. Und was sie zu politischen Aktivitäten treibt, ist nichts als gemeine Eifersucht.
»Seine Heimat kann man sich nicht aussuchen.« In der Lektion über die Kolonisation heißt es, nicht die asiatischen Nomaden, unter deren Einfällen man zu leiden hat, seien schuld, sondern Katharina II., die Große, die einfach deren Land vergeben hat. Aber, sagt die Erinnerung, Heimat sei »jener Ort, wo du das Licht der Welt erblickt hast, wo dich deine erste Liebe fand«. Was die Rechtsansprüche angeht, so geht das Land anscheinend mit der Zeit von allein in den Besitz der neuen Kolonisatoren über. Praktisch soll das heißen: »Ohne die Republik kann das Theater nicht leben.« Die jungen Menschen lernten sonst die deutsche Sprache nicht.
Die beiden anderen Inszenierungen behandeln auf eher komische und groteske Weise das Verhältnis des Intellektuellen/Künstlers zum leidenden Volk. Bei Slavomir Mrozeks Emigranten (Regie: Ljudmilla Zukassowa) sitzen ein »Gastarbeiter« und ein Dissident in einem Kellerzimmer im fernen Deutschland zusammengedrängt. Der Dissident benutzt den Arbeiter als Studienobjekt, um ein Werk über das Wesen der Sklaverei zu verfassen. Der gerät aber über die Explikation der Wahrheiten des intellektuellen Gonokokkus tatsächlich »außer sich« vor Wut und Haß, so daß er das Äquivalent seiner knechtischen Träume, das ganze für zu Hause gesparte, in einem Stoffhündchen versteckte Geld, vernichtet — und so, mit diesem unfreiwilligen Reflex der Freiheit, den theoretischen Ansatz seines Landsmanns widerlegt.
Dank der sorgfältigen Entfaltung der Figur des Arbeiters (Eduard Ziske) vom idiotisch nervtötenden Billigarbeiter zum panischen Tier, vom Beinahemörder zum Beinaheselbstmörder, entsteht statt des erwarteten Politdramas eine Farce über die »Geistesmenschen«, wie Thomas Bernhard das nennt, und die anderen.
Vollends verzichtete die dritte Inszenierung, Kroetz' Wunschkonzert (Regie: Katharina Schmeer), auf eine politische Befrachtung. Das Stück über den Selbstmord der altjüngferlichen, gepflegt-häßlichen Angestellten Fräulein Rasch, das zeigt, wie die Vorbereitungen eines Selbstmords »ohne Übergang aus den täglichen und deshalb als normal erachteten Tätigkeiten heraus passieren« (Kroetz) — armseliges Leben, armseliger Selbstmord —, ist ein pantomimisches ohne (deutsche) Worte. Die experimentelle Form sperrt sich konsequent der Programmatik der Veranstaltung. Auf engstem Raum treten das Fräulein und zwei zusätzliche Figuren auf, der Autor als Verrückter und infantiler Sadist, der mit seiner Figur, ihrer Erfindung und Beseitigung, ein übles Spiel treibt und eine Abspaltung der Frau, in deren Spiel sich all das niederschlägt, über was die andere hinweggrinst. Während die Frau ihre Verrichtungen vornimmt, sich die Ohrclips abmacht und ähnliches, klickt sie bei jeder Bewegung leise mit der Trommel einer Spielzeugpistole.
Was von der Darstellung in der Geschichtsstunde des Heinz-Stücks und im Programmhefttext vom Intendanten Dieter Wardetzky (früher Schauspieldirektor in Erfurt) im Magen liegen bleibt, ist die Art, wie mit den aufgezählten Leiden der deutschen Opfer des stalinistischen Terrors um Solidarität (d.h. Zuwendungen) fürs eigene Theater geworben wird. Die zwei anderen Arbeiten hätten für sich selbst gesprochen. Gemessen am sichtlich minimalen Budget dieser Inszenierungen, müssen die Kosten fürs Programmheftdesign maßlos gewesen sein. Ralf Fiedler
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