: Bis zur Grenze des Erlaubten
■ Der Bundestag versuchte sich erneut an einem Wahlgesetz KOMMENTARE
Was bringt die DDR mit?“ Die Frage war gerade dabei, zu einer rethorischen Floskel zu verkommen, da antwortete das Bundesverfassungsgericht: Ihr Wahlrecht! Das Gericht hat in seinem Urteil klargestellt, daß das von über Zweidrittel des Bundestages und des Bundesrates verabschiedete Gesetz auch deshalb „eine Intervention zugunsten der Parteien der Bundesrepublik Deutschland“ darstelle, weil es das nur wenige Monate alte DDR-Wahlrecht konterkariert: Das am Runden Tisch ausgehandelte Wahlgesetz zu den Volkskammerwahlen vom März 1990 führte den Begriff der „Listenvereinigung“ in die Wahllandschaft ein. Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Urteil aus, daß diese Regelung vom Bundesgesetzgeber zu übernehmen ist, da sie in demokratischer Weise die Benachteiligung solcher Gruppierungen in der DDR kompensiert, die, „von dieser Diktatur verfolgt und unterdrückt, erst nach deren Sturz beginnen konnten, sich zu organisieren“, während andere Parteien „auf eine Ausstattung zurückzugreifen in der Lage sind, die ihnen in der Zeit der Parteidiktatur der SED aufzubauen möglich war“.
Die „Listenvereinigung“ hat der Bundesinnenminister in seinen neuen Gesetzentwurf übernommen.
Wie sehr die Großparteien der Richterspruch schmerzt, wird daran deutlich, daß sie dort, wo das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nicht direkt in die Feder diktiert, was er zu tun hat, zumindest bis zur Grenze des Erlaubten gehen: Es bleibt bei der (wenn auch regionalisierten) Fünf- Prozent-Sperrklausel. Parteien oder Listenvereinigungen, die entweder in der DDR oder in der Bundesrepublik fünf Prozent der Wählerstimmen bekommen, nehmen an der Verteilung der Mandate teil. Stimmen, die sie im jeweils anderen Wahlgebiet bekommen, werden dann (unabhängig davon, ob sie dort fünf Prozent erreichen) hinzugezählt. Das Bundesverfassungsgericht hat keinen Hehl daraus gemacht, daß es — jedenfalls für diese erste gesamtdeutsche Wahl — erhebliche Zweifel an der Anwendung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel hat: So heißt es im Urteil, es könne „die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht ein für alle mal abstrakt beurteilt werden“. Vielmehr seien „die Verhältnisse des Landes, für das die Wahlrechtsbestimmungen gelten sollen, zu berücksichtigen“. An keiner Stelle ist zu finden, daß das Gericht eine Fünf-Prozent-Sperrklausel für hinnehmbar hält. Es führt lediglich aus, daß jedenfalls eine auf „das gesamte Wahlgebiet bezogene Fünf-Prozent- Sperrklausel“ verfassungswidrig ist und verpflichtet daher den Gesetzgeber — sofern er eine Sperrklausel errichtet— diese zu regionalisieren. Das Gericht spricht gerade nicht von einer Fünf-Prozent-Sperrklausel, sondern allgemein davon, daß der Gesetzgeber nicht gehalten ist „von einer Sperrklauselregelung überhaupt abzusehen“.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, Bernrath (SPD), hat die Karlsruher Entscheidung kritisiert. Es sei schon „mutig“, ein gerade vereintes Volk zur Wahl in getrennten Wahlgebieten zu zwingen. Die SPD hat es immer noch nicht kapiert: Statt sich mit der CDU gegen die Grünen und die Organisationen der Bürgerbewegungen zu verbünden, sollte sie sich lieber auf die Seite der Hüter der Verfassung stellen. Aber nach wie vor gilt wohl, was schon Goethe gesagt hat: „Alles Große und Gescheite existiert nur in der Minorität.“ Karlheinz Merkel
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