: Das feudale Volksbildungsmittel
■ Anmerkungen und Abschweifungen rund um das »Kaiserpanorama« im Berlin-Museum
Der Erfinder pries sich selbst: »Es ist ein Kunst-Institut ersten Ranges, welches einem zeitgemäßen Bedürfnis entsprechend den Anschauungs-Unterricht für alle Schüler in außerordentlicher Weise erweitert. Es ist ein Volksbildungsmittel von außerordentlicher Bedeutung, es führt künstlerische Glas-Stereos vor, welche alle Gegenstände und Sehenswürdigkeiten ‘polychromiert‚, perspektivisch-plastisch, d.h. in höchster Naturwahrheit zeigen.«
1889 hat sich August Fuhrmann sein »Selbsteinkassierendes Wandelpanorama« patentieren lassen. Der Physiker, Erfinder und Geschäftsmann Fuhrmann hatte mit »Telephonkonzerten« experimentiert, war mit Diaprojektionen übers Land gezogen und hatte in Berlin Stereodias vorgeführt, bis ihm mit dieser Weiterentwicklung von bereits existierenden Apparaten der finanzielle Durchbruch gelang. In der ersten Vorstellung im Berlin des wilhelminischen Deutschlands präsentierte er Bilder aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Zu diesem Anlaß taufte Fuhrmann — ganz patriotisch — seine Firma »Kaiser-Panorama«.
Von dieser »großen Holztrommel mit den Weltbildern«, wie Max Brod sagte, existierten diverse Ausführungen im europäischen Raum. Die eines Fuhrmann-Konkurrenten steht seit einigen Jahren im Berlin-Museum in der Kreuzberger Lindenstraße. Das zylinderförmige, dreimeterfünfundsiebzig dicke Gründerzeitmöbel mit vierundzwanzig Stühlen drumherum zeigte bis vor kurzem die leicht angestaubte Bilderserie Berlin um 1900. Doch wer sich nun setzt, vornübergebeugt auf die Armlehne stützt und seine Augen an die beiden Gucklöcher preßt, der sieht Bilder von der Öffnung der Mauer. Die Ereignisse seit dem 9. November 1989 wurden vom Berliner Gerd Schulte in über 2.000 Aufnahmen mit einer von ihm konstruierten Stereokamera eingefangen. Nun sind sie eingesperrt in einem der »Aquarien der Ferne und der Vergangenheit«, wie Walter Benjamin die Panoramen nannte.
Das Kaiserpanorama trägt seinen Namen zu Unrecht. Denn anders als im Panorama, einem anderen Massenmedium des 19. Jahrhunderts, sind die Betrachter nicht in einem großen Kuppelbau vom Bild umringt, sondern die Bilder in dem kleinen Holzrondell von den Betrachtern. Gemeinsam haben die beiden, daß das Gesichtsfeld beim Gucken quasi völlig umschlossen ist. Im Kaiserpanorama wird dieser Effekt durch die in die Gucklöcher montierten Vergrößerungslinsen erzielt. Hinter je zwei Gucklöchern erblickt man zwei Glasdias, die das gleiche Motiv zeigen — allerdings im Augenabstand verschoben aufgenommen. Durch diese Nachahmung des zweiäugigen Sehens kann das Gehirn die beiden Aufnahmen zu einem gesamten, räumlichen Eindruck verschmelzen. Insgesamt befinden sich 50 Bildpaare auf einem »Bilderrad« hinter den Gucklöchern. Es dreht sich — rumpelnd und pumpelnd — alle halbe Minute eine Ansicht weiter. Dieses mittelschwere Erdbeben im Bilderkosmos wurde bei Fuhrmanns Ausführung durch ein Glockenzeichen angekündigt, vom Uhrwerk des Bilderrades angetrieben. Das warme Licht von gasbetriebenen »Liliput-Glühlichtbrennern« illuminierte die Dias und ermöglichte so die Projektion direkt in die Augen. Die Helligkeit individuell regulierbar — per »Schiebestift«.
»In August Fuhrmanns Kaiserpanorama ist die Geschichte der optischen Vergnügungen im 19. Jahrhundert zur Maschinerie kristallisiert: Vom Guckkasten die Form, vom Panorama die imperialistische Geste der optischen Aneignung von Natur, vom Diorama das Diaphane, das die Bilder so lebenswahr und leuchtend macht, und von der Fotografie die Perfektion der Abbildung.« Zwei weitere »optische Vergnügungen« hat Stephan Oettermann übersehen. Zum ersten ließ Fuhrmann seine Glasdias nach einem von ihm entwickelten Verfahren handkolorieren. Mit dieser »Polychromierung« floß auch die Ästhetik der naturalistischen Malerei mit ein. Und zweitens ist die Anordnung von Dia, Linse und Auge im Kaiserpanorama die gleiche wie beim Stereoskop. Dieses Handbetrachtungsgerät für Stereobilder wurde in den 1830ern von Charles Wheatstone konstruiert und später von David Brewster und Oliver Wendell Holmes weiterentwickelt, um dann ab Mitte des Jahrhunderts massenweise Verbreitung zu finden.
Fuhrmanns Geräte standen in über 250 Filialen, wo Lizenznehmer die von ihm verliehenen Serien ganztägig laufen ließen. Das Programm wurde wöchentlich gewechselt. In besten Zeiten schickte Fuhrmann bis zu acht Fotografen mit firmeneigener Ausrüstung in ferne Länder oder auch in die Gemächer von Papst und Kaiser, um aktuelle Aufnahmen zu machen: Exotisches, Festivitäten, Paläste und Kathedralen, Boulevards, Paraden und Feldzüge faszinierten offensichtlich das Publikum. Doch Fuhrmann als einen Pionier der Bildberichterstattung und das Kaiserpanorama als einen Vorläufer von Kino oder Fernsehen zu begreifen, wäre eine zu grobe Vereinfachung. Allenfalls das Vertriebssystem ähnelt dem der späteren Kinoindustrie. Dagegen stehen die »Sehenswürdigkeiten« des »Reise-Bildungs-Instituts« weniger in einer journalistischen Tradition als in einer der touristischen Werbeveranstaltungen. Und das Schauen während dieser »Lehnstuhlreisen« war ein völlig anderes als im Kino, denn »in der Einrichtung des Kaiserpanoramas« kam laut Walter Benjamin »besonders klar eine Dialektik der Entwicklung zum Ausdruck. Kurz bevor der Film die Bildbetrachtung zu einer kollektiven macht, kommt vor den Stereoskopen dieser schnell veralteten Etablissements die Bildbetrachtung durch einen einzelnen noch einmal mit derselben Schärfe zur Geltung wie einst in der Betrachtung des Götterbilds durch den Priester in der cella.«
Ein besonders markanter Unterschied liegt darin, daß im Gegensatz zum Kino nicht vorrangig die Zeit, sondern der Raum reproduziert und wahrgenommen wird. Nicht 24 Bilder pro Sekunde werden gezeigt, sondern 24 Zuschauer sehen sekundenlang eine einzelne Ansicht. Und die Synchronizität der Betrachtung ist erst nach einem Durchlauf des Bilderrades annähernd hergestellt. Die stereoskopischen Bilder steigern die Illusion des räumlichen Eindrucks und waren »lebendiger als im Kino, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen«, so Franz Kafka. Das war nichts für das Publikum des frühen Kinos: »Der Lebensrhythmus der Industrialisierten wurde längst nicht mehr durch natürliche Abläufe organisiert, sondern durch den Takt von Maschinen und die Struktur von Arbeitsablaufsystemen bestimmt. Der sturen Regelmäßigkeit, in der das ‘Häutchen‚ mit den Photographien, der Film, [...] ein Stückchen weiterbewegt, stillgesetzt, illuminiert und wieder transportiert wurde, entsprach der immer wiederkehrenden Tätigkeit in der mechanisierten Fabrikarbeit« (Siegfried Zielinski).
Die ersten Kaiserpanoramen standen in Berliner Passagen, voll integriert in die bunte Warenschau des Hochkapitalismus. Dort flanierten Adel, Bürgertum und der Rest des vornehmen Berlins. In den halbdunklen Vorführsalons herrschte andächtige Stille. Nur der zarte Glockenton löste den Betrachter aus seiner innigen Versenkung in die »andere Welt, in die man nur blicken darf, anders als mit dem Blick gelangt man nicht in sie hinein«, wie H.G. Adler in seinem Roman Panorama schwelgt. Doch schon bald war die Aura dahin. 1913 beobachtete Max Brod: »Nur unruhige Kinder gehen noch hin, verarmte ehemalige Hochzeitsreisende schwelgen in Erinnerungen, untätige Offiziere suchen passende Schlachtfelder für ihre phantastischen Kolonialkriege.« Fuhrmann fertigte noch bis nach dem Ersten Weltkrieg Bilderserien an und starb 1925. Das Unternehmen wurde in die »Weltpanorama AG« umgewandelt und existierte bis 1939.
Über die Panoramen schwärmte Benjamin, daß sie »die Kammer wurden, wo im Inneren die Kinder mit dem Erdball Freundschaft schlossen, von dessen Kreisen der erfreulichste — der schönste, bilderreichste Meridian — sich durch das Kaiserpanorama zog«. Diese Erinnerung aus seiner Berliner Kindheit erscheint wenig dialektisch, denn die besagte Anfreundung mit dem Erdball ging einher mit dem Kolonialismus der westlichen Großmächte. Die optische Begleitmusik spielte Fuhrmann auf seinem Apparat. In seinem »Weltarchiv polychromer Stereo-Urkunden auf Glas« häufte er über 100.000 Glasstereos an. Stephan Oettermann brachte es auf den Punkt: »Imperialismus des Auges«. Andreas Bock
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