Morgenröte in der sowjetischen Japan-Politik
: Der Sieg der Samurai

■ Die Sowjetunion will Japan zwei der vier seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besetzten Kurilen-Inseln zurückgeben. Im Gegenzug erhofft sich Gorbatschow vom fernöstlichen Wirtschaftsgiganten die Sanierung der darniederliegenden Sowjet-Ökonomie.

Jedes Dorf im nördlichen Japan schmückt sich mit einer Tafel, auf der geschrieben steht: „Wir fordern unsere vier Inseln zurück.“ Jeder japanische Politiker, ob Kommunist oder Rechtsradikaler, hat wohl schon einmal die angebliche „sowjetische Aggression“ angeprangert, die Nippon nach dem Zweiten Weltkrieg den Verlust der nördlichen Kurilen-Inseln kostete. Mit dem Stolz eines Samurai-Kämpfers verteidigte Japan — einig von den Kommunisten bis zu den Rechtsradikalen — seit 1945 seinen Anspruch auf vier winzige Inseln gegen die sowjetische Großmacht. Sollten die Samurais jetzt endlich den Lohn für ihren unverzagten Kampf um Gerechtigkeit bekommen?

Es sieht so aus. Bereits vergangene Woche beim Besuch einer Parlamentsdelegation aus Tokio gestand der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatchow seine Niederlage gegenüber der japanischen Beharrlichkeit ein. Ihr wurde in Moskau der Entwurf für ein Abkommen unterbreitet, wonach die Sowjetunion ohne Gegenleistung zwei der vier umstrittenen Inseln an Japan abtritt. Alles weitere — auch die Rückgabe der zwei anderen Inseln — soll dann in Verhandlungen bis zur Unterzeichnung eines endgültigen Friedensvertrages innerhalb von drei bis fünf Jahren geregelt werden.

Diese Informationen wurden aus Kreisen der japanischen Regierungspartei am Sonntag in Tokio der Öffentlichkeit bekanntgegeben. „Der Entwurf kündigt die sowjetische Japanpolitik der letzten 30 Jahre auf“, jubelte die führende Tokioter Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘ noch am gleichen Tag.

Für den offiziellen Jubel ist es freilich noch zu früh. „Man kann heute eine deutliche Bewegung in der Position der Sowjetunion erkennen“, lautete gestern der lakonische Kommentar aus dem Tokioter Außenministerium. Das ändert freilich nichts daran, daß der neue sowjetische Vorschlag voraussichtlich einen der größten politischen Erfolge Japans in der Nachkriegsgeschichte markiert. „Wenn unsere Politiker jetzt keinen entscheidenen Fehler mehr machen und damit die öffentliche Meinung spalten, dann wird Japan bald alle vier Inseln zurückbekommen“, prophezeite Nippons angesehener Sowjet-Experte Hiroshi Kimura bereits am Sonntag.

Der sowjetische Entwurf beruft sich im einzelnen auf ein sowjetisch- japanisches Abkommen aus dem Jahr 1956, in dem bereits die Rückgabe von zwei der vier am 3. Dezember 1945 von Stalin per Dekret annektierten Inseln vorgesehen war. Da die Sowjetunion erst im August 1945 in den Krieg gegen das kaiserliche Japan eintrat, glauben die meisten Japaner noch heute, daß es sich damals um einen „russischen Raubzug“ handelte, dem die Kurilen-Inseln ungerechtfertigt zum Opfer gefallen waren.

Das Abkommen von 1956 fand nach Abschluß des US-japanischen Sicherheitsvertrages von 1960 keine weitere Beachtung, da sich die Sowjetunion von nun an strikt weigerte, einen Territorialkonflikt zwischen beiden Ländern überhaupt zu erwähnen.

Daß der Kurilen-Konflikt so nicht aus der Welt zu schaffen war, läßt sich schon durch einen Blick in die Geschichtsbücher erahnen. Seit 1792 ein erstes russisches Schiff unter der Flagge Katharinas der Großen auf den Kurilen landete, streiten sich Tokio und Moskau über die Hoheitsrechte über die landschaftlich öden, aber militär-strategisch zumindest früher wichtigen Inseln, von denen sich die Seewege vom Japanischen und vom Ochotskischen Meer auf den Pazifik kontrollieren lassen. Je mehr die Sowjetunion den Konflikt um die Kurilen-Inseln zu verdrängen suchte, desto populärer wurde er in den vergangenen Jahren in Japan.

Nicht genug, daß die japanische Regierung seit 1981 einen „Kurilen- Tag“ am 7. Februar jeden Jahres ausgerufen hatte, der an allen Schulen gefeiert werden mußte, vor acht Jahren wurde auch noch ein Gesetz verabschiedet, das die Regierung auf die Forderung nach der Rückgabe der Inseln festlegt. Mitte der achtziger Jahre dann brachte eine Unterschriftenkampagne gleich 50 Millionen Stimmen für die Rückgabe der Inseln zusammen. Ein ganzes Volk züchtete den sonst nie öffentlich gepflegten Nationalismus mit der Liebe zu vier weitgehend unbekannten Territorien. Für Moskau mußte klar sein, daß es ohne die Inseln an Japan und seine Wirtschaftskraft kein Herankommen gab.

Lange Zeit zögerte Michail Gorbatchow. Die Verärgerung beim Empfang japanischer Delegationen, deren Mitglieder nie über etwas anderes als die Kurilen sprechen wollten, war ihm nicht selten anzusehen. Dann kam Anfang September dieses Jahres Außenminister Eduard Schwewardnadse nach Tokio und verkündete: „In den nächsten zehn Jahren werden wir den Beziehungen zwischen unseren Ländern ein festes Fundament verschaffen.“ Gorbatchow nun will ihm im April 1991 folgen — mit dem unterschriftsreifen Abkommen im Gepäck.

Freilich hätten manche Regierungsbeamte lieber gleich alle vier Inseln vorbehaltlos überreicht bekommen — doch diesmal wird Tokio nur schwerlich der sowjetischen Offerte wiederstehen können.

Immerhin waren sich beide Seiten bereits 1956 über ein ähnliches Vorgehen einig. Auch kann Japan nicht mehr lange Zeit unbeschadet als einziger Verbündeter des Westens eine sowjetfeindliche Politik betreiben. Angst aber dürften Japan die Kosten des Unternehmens machen. Denn der Moskauer Entwurf schreibt unmißverständlich vor: „Beide Länder sind der Auffassung, daß die Wirtschaftsreformen in der UdSSR von großer Bedeutung für die Stabilisierung der internationalen Gemeinschaft sind. Beide Länder werden deshalb gemeinsam für den Erfolg dieser Reformen arbeiten.“ Besonders der Westen wird sich freuen, wenn nun endlich auch das reiche Japan seinen Obulus für etwas mehr Frieden auf der Welt entrichten muß. Georg Blume, Tokio