: O-, Mittel-, Bundes- und Gesamtdeutsche
„Ähm, also“, „wie nennt man nun“ „sag doch mal schnell“, „wie heißt jetzt gleich?“ — ja verdammt, wie heißt nun das, worin wir leben? Und wer, vor allem, sind wir jetzt oder sind wir vielleicht noch dieselben und dürfen nur nicht mehr so heißen? Wohngemeinschaftsgespräche stocken, Schreibmaschinen verhaspeln sich, Fernseh- Talkshows stolpern, innere Widerstände blockieren den Redefluß, Trotzreaktionen werden zur Identitätssicherung.
Da schaffen Politiker von einem Tag auf den andern ein neues Gebilde, tilgen ein anderes von der Landkarte, versehen 17 Millionen Menschen mit einem neuen Adjektiv, lassen — trotz veränderter Situation — weitere 60 Millionen mit dem alten. Eine Nation stürzt ins Sprachchaos, Ämter, Behörden, Zeitungsredaktionen und Politiker sind schutzlos einem Berg peinlicher sprachlicher Fehlerquellen ausgeliefert.
Also sucht man Hilfe in Gedrucktem und offiziell Verordnetem. Also noch einmal: Wie heißt das Land, in dem wir seit dem 3. Oktober immer noch oder erstmals leben? Bundesrepublik Deutschland. Bravo, formal korrekt, aber ansonsten falsch, völlig flasch. Deutschland muß es heißen, so sagt's der Kanzler und so steht es in 'Bild‘, 'Frankfurter Rundschau‘, 'FAZ‘ oder 'ND‘. Nur, das eine Deutschland ist eben nicht ein Deutschland, denn daneben gibt es immerhin noch ein „Gesamtdeutschland“, „ein wiedervereinigtes Deutschland“, ein „neues Deutschland“, ein „nunmehr noch größeres Deutschland“ und ein „Ostdeutschland“, „Mitteldeutschland“ und „Westdeutschland“.
Damit nicht genug: Es existieren noch die „frühere DDR“, „das Beitrittsgebiet“, „das Land zwischen Oder und Elbe“, „das Territorium der ehemaligen DDR“ oder — für ganz Eilige —: die DDR in Anführungszeichen und die bundespostalische Lösung: „O-Deutschland und W-Deutschland“. Auf jeden Fall: viel zu viel Länder für ein Land! Von seinen Bewohnern ganz zu schweigen. Denn: Wer bitte schön sind wir denn und sind wir alle und an allen Orten dieselben? DDR-Bürgerinnen auf Mallorca zum Beispiel sind Deutsche (wobei sie ja eigentlich Bundesbürgerinnen sind). Sind sie aber zu Hause und man beurteilt, sagen wir, ihr Sexualverhalten oder ihre Lesegewohnheiten, heißen sie Ostdeutsche. Ostdeutsch wiederum klingt aber nach Vertriebenenverband und vertrieben sind sie ja gerade nicht, denn sonst wären sie jetzt ja Westdeutsche. Westdeutsche hingegen heißen, wenn sie in Frankreich, Griechenland oder Nepal weilen, Deutsche, wollen es aber vielleicht gar nicht sein, weil Deutschsein — das ist ja so eine Sache und das Wort will einem einfach so schwer über die Lippen. Und dann sind sie es formal korrekt ja auch gar nicht, denn offiziell sind sie Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Oftmals sind sie aber nicht mal das, weil: sie sind Berliner! Genau Berliner, das ist's, der Ausweg! Aber da gehts schon wieder los: Erstens können nicht 80 Millionen Menschen Berliner sein, das hält die Stadt überhaupt nicht aus und dann kommt wieder das Bedürfnis nach sprachlichen Kontrastmitteln: Berlin Ost oder West? Was es beides offiziell gar nicht mehr gibt oder zumindest nicht geben darf und dann steckt man es einfach auf — weil irgendwie ist das ja alles gar nicht so wichtig mit der Sprache — und kommt beim nächsten Mal wieder ins Rumdrucksen, weil man's doch richtig machen möchte, aber das Richtige — wie so — oft einfach nicht stimmt. Jenny Marx
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