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: Laß diesen Kelch vorübergehen...

■ "Du bist mein Land... Eine Heimkehr". Mo., 8.10., ARD, 23 Uhr

Ulrich Schacht, Schriftsteller und Journalist, geboren in der DDR, hinuntergefahren in den Knast, im dritten Haftjahr wiederauferstanden und freigekauft nach Hamburg, von wannen er wiederkam im Jahr des Herrn 1990 nach Wismar, zu richten den Ex-Arbeiter- und Bauernstaat. Und das Fernsehen schneidet sich neunzig Minuten aus den Rippen, um die Heimsuchung des Ulrich Schacht zu unser aller Heimsuchung zu machen. Denn siehe: Wenn nur ein Selbstgerechter unter der ehemals „renitenten christlichen DDR-Jugend“ ist, dann komme sein Geschwafel über uns alle, die wir da guten Willens in die Röhre gucken.

Ulrich Schacht — ein 39jähriger mit glattgebügeltem Gesicht und schrebergärtnerisch gestutztem Bart: geboren 1951, 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Knast verurteilt, nach drei Jahren vom Westen freigekauft und seither nie wieder in Wismar, der „Heimatstadt“, gewesen, reist jetzt mit Friedhelm, dem Kusäng, dorthin, um alle Stellen abzuklappern, an denen ihm jesusmäßig übel mitgespielt worden ist — von all den „Eichmann-Visagen“, Höß-Schnauzen und Turnlehrer Rumpel, „dem faschistoiden Typen. Schon in der Schule fing es an: ,Bums, hab' ich eine gefangen‘“, erzählt er dem Kusäng, „und dann hab' ich natürlich geschrien: ,Sind wir hier im KZ?‘ — Und da hat mich der Lehrer natürlich denunziert beim Rektor. ,Schacht! Setzen!‘ — Mensch, diese Typen.“ Tztztz macht der Kusäng und gibt Ulrich das nächste Stichwort: „Wie war das denn damals, als du... ?“

Oh, furchtbar war es damals, und furchtbar ist es jetzt, mitzuerleben, wie da zwei faselnde Kumpels durch Wismar streifen: „Sieht doll aus, die Kirche, is ja unglaublich schön“; „in der Ruine ham wir uns echt frei gefühlt. Weißt du noch, wie wir damals gepafft haben?“ Zwei Kumpels, die nun in aller Öffentlichkeit nicht nur die Märtyrer des Kommunismus spielen — nein: Sie suchen auch noch den ehemaligen Mentor der christlichen Jugend heim, und Schacht läßt ihn original aus seiner damaligen „Fürbitte für mich“ zitieren: „... Und mögest du unserem Bruder Ulrich Schacht in der Leidensnachfolge Jesu Christi Kraft verleihen...“ Er kann nicht genug kriegen an Selbstbeweihräucherung, der Heimkehrer und Knastbruder im Herrn. Er läßt sich erneut in Handschellen abführen, er wiederholt den Hofgang im Gefängnis, verliest seine „Liebe- Mutti“-Briefe, singt am Altar zur Gitarre ein selbstverfaßtes Lied: „Gott findest du heut nicht mehr in Domen...“, und faselt unredigiert den bodenlosesten Unsinn vor sich hin: „Mensch, is' das hier alles verfallen. Prag is' ja auch verfallen, aber dort is' wenigstens noch Geist in den Trümmern.“

Wenn Dieter Meichsner, verantwortlich fürs NDR-Fernsehspiel und damit auch für diese aufgeblasene Stammtischbruderschaft — wenn der sich schon nicht schämt, so etwas als sendefähig einzustufen, dann kommt noch einiges auf uns zu. Der Abspann droht: Es gab rund 300.000 Strafverfahren in der DDR, von denen über 45.000 zu Verurteilungen und Haftstrafen führten. Oh Herr, laß diesen Kelch an uns vorübergehen. Sybille Simon-Zülch