Schau mir in die Augen, Kleiner

■ Humantheologen erforschen Verhaltensmuster

Er betritt den verqualmten Saal und sieht sie zum ersten Mal. Ihre Augen schmachten ihn an, ihr Gesicht ist leinwandfüllend und schön.

Er sieht sie, sie sieht ihn und zosch — alle wissen's, es ist passiert: Liebe auf den ersten Blick. Anstatt einfach romantische Gefühle sprechen zu lassen, untersuchte eine Gruppe der Forschungsstelle Humantheologie der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs diese Frage mit einem „Flirtexperiment“. Bei Besuchen von Schulklassen wurde jeweils eine Achtzehnjährige und ein ihr unbekannter gleichaltriger Schüler in einen Raum gelockt, um dort angeblich einen Videofilm auszuwerten. Bevor der Film anlief, klingelte jedoch immer das Telefon und der Versuchsleiter ließ die beiden Jungendlichen allein. Die nun folgende Kontaktaufnahme des Paares wurde mit versteckter Kamera gefilmt. Anschließend mußten die beiden VersuchsteilnehmerInnen einen Fragebogen ausfüllen: Für wie attraktiv sie den oder die andereN halten, für wie attraktiv sich selbst und wie sie das gegenseitige Interesse aneinander einschätzten. Ob es Liebe auf den ersten Blick gibt, ist nach wie vor ungewiß. Wissenschaftlich erwiesen ist nun, daß die ersten Minuten, ja Sekunden, nach der Kontaktaufnahme entscheidenden Einfluß haben.

Die weiteren Forschungsergebnisse: Der erste Blickkontakt ging eindeutig häufiger von der Frau aus. Je attraktiver der Mann von ihr eingeschätzt wurde, desto kürzer dauerte es bis zur Blickaufnahme durch sie. Reagierte der Mann mit Wegsehen, so fiel er in ihrer Bewertung stark ab. Je mehr er ihr gefiel, desto mehr redete und vor allem fragte sie. Die Anzahl der ohs, ahs und heys stieg genauso wie die Häufigkeit der grammatikalischen Fehler — eine Folge ihrer durch seine Attraktivität bewirkten Unsicherheit. Je unsicherer dagegen der Mann sich seiner selbst war, desto weniger redete er überhaupt. Zu seinen Ungunsten, desto weniger attraktiv wirkte er auf seine Gesprächspartnerin. Fatalerweise reagierte er gerade dann, wenn er sie anziehend fand, mit geringer Selbsteinschätzung; er sprach also wenig und verdarb sich damit seine Chancen bei ihr.

Bei mangelnder Selbstsicherheit zogen sich die Männer zurück, die Frauen dagegen nicht. Weshalb aber verfolgte er eine andere Strategie, um seine Unsicherheit zu bewältigen, als sie? Auch darauf haben die WissenschaftlerInnen in Andechs eine Antwort parat: Männer wollen dominieren, während das weibliche Flirtverhalten viele unterwürfige Gesten enthält. Sie versucht ihm eine überlegene Position zuzuspielen, damit er sein Werbeimponieren zustande bringt. Sie kann es sich leisten zu stammeln und Schwächen zu zeigen. Er dagegen ist Macho und sagt lieber gar nichts als sich eine Blöße zu geben. Wolfgang Blum