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Die Juden und die Rettung Rußlands

Latenter Antisemitismus in der UdSSR geht quer durch die politische Lager und reicht weit hinein in die Intelligenz/ Der erste öffentliche Prozeß gegen einen Pamjat-Vertreter in Moskau wurde zu einem Schauprozeß/ Wer rettet Mütterchen Rußland?  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Valerij war den Tränen nahe. Natürlich hatte er schon einen über den Durst getrunken. Schließlich war es sein dreißigster Geburtstag. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Reiseerlebnisse. Als Mitarbeiter einer namhaften liberalen Tageszeitung hatte er soeben in Sibirien den Lebensbedingungen kleiner Völkerschaften nachgespürt. Stundenlang erzählte er von Elend, himmelschreiender Ungerechtigkeit und unvorstellbarer Not. Dann sagt er plötzlich: „Hör zu, es ist doch nicht alles falsch, was sie sagen!“ Wer? „Pamjat!“ Ich war völlig perplex. Weder ihn noch die Gruppe hätte ich jemals mit dieser russisch—chauvinistischen und antisemitischen Bewegung in Verbindung gebracht. Ihn störte das nicht weiter. Während er immer wieder lallte, „doch nicht ganz falsch, ... Doch nicht ...“, goß er den Wodka aufs Wachstuch und zündete ihn an. Wenigstens der hat noch Power! Dann hielt er seine Arme dicht über die Flamme ... Mein Gott, Mütterchen Rußland.

Die Russen sind keine Antisemiten und „Pamjat“ ist keine Massenbewegung. Aber es gibt ihn, den latenten, russischen Antisemitismus. Er offenbart sich bereits an so scheinbar Nebensächlichem wie dem Wort „Jewrej“, Jude auf Russisch. Wenn es irgendwo fällt, wenden sich Köpfe.

Ich zeige einer Freundin die Resolution einer bekannten Moskauer Oppositionellenvereinigung. Über das Thema hatten wir vorher gesprochen und waren einer Meinung. Sie wirft einen Blick auf die Namen: „Natürlich, die sind doch immer gegen alles!“ und läßt dabei die jüdischen Namen über ihre lächelnden Lippen rollen. In Kiew, nach einem Gespräch mit einem engagierten Vertreter der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ zieht dieser mich auf die Seite und sagt: „Nur im Vertrauen, schreiben Sie nicht darüber, aber wissen Sie, wer an dem Ganzen wirklich schuld ist. ...“

Neue Liberalität und Umbruch

Das Aufkeimen des Antisemitismus hat natürlich etwas mit der neuen Liberalität und dem Umbruch zu tun. An die Stelle der alten rigiden Ordnung ist ein unüberschaubares Chaos getreten, in dem es nur eine Konstante gibt: den Mangel, auch an überzeugenden Orientierungspunkten. Die Intelligenz hat fast ein Jahrhundert intellektueller Entwicklung verpaßt. Nun entdeckt sie alles, von Oswalt Spengler bis Paul Feyerabend. Doch ihr fehlt das Verständnis für die Zusammenhänge.

Igor Schafarjewitsch ist ein bekannter russischer Mathematiker. Seit einigen Jahren hat er sich auch einen Namen als Essayist gemacht. Sein Thema: die Russophobie westlicher Historiker, die die russische Geschichte angeblich als eine Abfolge von Grausamkeit, Despotie, Zivilisationsfeindlichkeit und eine Gefahr für die Menschheit in den Dreck zögen. Nicht nur westliche Historiker, auch russische Emigranten und Juden gehörten zu diesem Kreis.

Geleugnetes antisemitisches Syndrom

Schafarjewitsch warnt — nicht zu unrecht — vor einer einfachen Kopie des Westens, die Rußland zu einem weiteren lateinamerikanischen Land degradieren würde. Seine Alternative dazu gipfelt in einer religiös-patriotischen Heilsprophetie, einer sozialen Monarchie. Eine Symbiose aus „Kreuz und Schwert“, Insignien, auf die sich auch „Pamjat“ stützt. Juden haben hierin keinen Platz. Schafarjewitsch veröffentlicht nicht nur in den einschlägigen Blättern der Rechten. Man findet seine Artikel genauso bei der demokratischen Opposition. Und die Fernsehmoderatoren interviewen ihn mit kritikloser Ergebenheit, als wäre er Lenins Epigone.

Auch die „kritische“ Intelligenz, soweit sie nicht jüdisch ist, hat die Existenz eines antisemitischen Syndroms bislang nicht öffentlich eingestanden. Erst am Vorabend des ersten offiziellen Prozesses in der UdSSR wegen „interethnischer Hetze“ (Artikel 174 Strafgesetzbuch) gegen Konstantin Ostaschwili griff die Prawda dieses Thema auf. Ostaschwili hatte im Januar das „Haus der Literaten“ mit seinen Genossen von der Pamjat heimgesucht und jüdische Intellektuelle beschimpft und zusammengeschlagen. Der Prozeß kommt nicht recht vorwärts. Ostaschwili lehnte es ab, sich sowjetischen Richtern zu stellen. Sie seien „allesamt Juden“ und deswegen befangen. Er bleibt den Verhandlungsterminen meistens fern. Taucht er doch vor Gericht auf, nutzt er diese Chance, um der Öffentlichkeit seine Verschwörungstheorien kundzutun — minutenlang aus der Anklagebank heraus. Von den Fernsehjournalisten bleiben diese Tiraden von Ostaschwili unkommentiert. Seine Gegner vermuten dahinter wieder einmal System. Ich schreibe es eher der Hiflosigkeit der Journalisten zu. Weniger gefährlich ist es deshalb nicht.

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