: Knautschtangos und wogende Bälger
■ Ein Probe-Abend beim bald 80-jährigen Bandonion-Verein „Harmonie“ Blumenthal, dem fast letzten seiner Sorte
Es wogen die Bälger, es braust die Musike in langen Wellen, dann aber zack!, und gleich marschieren Kolonnen spitziger Akkorde auf — aber zu laut, zu laut: „Piano!“ ruft der Dirigent, „ganz sacht jetzt!“. Und Pfundshände krabbeln wieder über Knopfreihen, es ist eine Arbeit, bis man heraushat, wie sachte Musik hergestellt wird. Der Dirigent ist ganz akkurat, da geht es unerbittlich nach den Noten, und wo schon in drei Tagen, am Samstag, die große Feierlichkeit ist. Der Vorsitzende steht aber schon mal auf, „denn eigentlich schon heute, liebe Freunde, wird der Bandonion-Verein „Harmonie“ Blumenthal von 1910 achtzig Jahre alt. Eine lange Zeit, und zugleich...-“ Aufrecht und milden Blicks sitzen um ihn die Mannsbilder und nehmen, mit Feiertagsgesichtern, die Parade der Vorsitzendenworte ab.
Das Bandonion, von dem Tüftler und Kirmesmusikus Heinrich Band 1846 erstmals konstruiert, ist sozusagen eine in den Orgeldienstrang beförderte Mundharmonika; wie diese hat es Metallzungen, die bei Druck oder Zug verschiedene Töne erzeugen. Ein Instrument für grobe Hände wollte er, der Band, was weitgespannte Tastatur-Akkorde auf engem Raum unterbringt. Also hat er eine Knopfbedienung gemacht, von genialer Einfachheit, notfalls nach Zahlen zu spielen. Auch die vorwiegend älteren Herren hier in Blumenthal haben fast alle nicht Noten, sondern Zahlen-Tabulaturen vor sich liegen. Das Bandonion ist in den Industriegebieten Deutschlands schnell populär geworden. Frauen spielten (und spielen) es kaum.
Jetzt ein Tango. Der Dirigent wippt sich in Positur, ticketick, los. O diese heftigen Akkord- Ausstoßungen, wie machen sie das Orchester ruckeln; und allerhand synkopische Kurven kommen heran und wollen genommen sein, „schon besser“, sagt der Dirigent, „aber doch noch mal das Decrescendo!“ Also. Wieder schaukeln sie die Bandoniöner auf ihren Knieen und sehen aus wie Leute, die eine Arbeit tun. Seltsam, wie man hier die Musik in den Händen hat und knautscht und, je nachdem, begreift. Wie friedliche alte Buben sitzen sie. Mal splittert ein bißchen Streit ab: ab welchem Takt ist jetzt der Schluß von „House of the rising sun“ ritardando zu nehmen? Dirigent und Arrangeur zischeln sich an, und eine anwesende Ehefrau zwinkert mir zu.
In Argentinien dauert die Karriere des Bandonions, was von deutschen Seeleuten mal eingeschleppt worden ist, noch an. Hierzulande muß ein gestandener Verein wie „Harmonie“ solche wehmutstiefen Tango-Sätze in seine Chronik schreiben: „Die Entwicklung der Tanzmusik führte dazu, daß seit 1960 davon Abstand genommen wurde, auf Tanzveranstaltungen zu spielen.“ Sie haben ihre Musik, dafür bestimmt, große Massen in großen Sälen umzurühren, sie haben aber auch ihren Stolz und spielen notfalls für sich oder machen anderen die musikalische Umrahmung. Es gibt kaum Lehrer, kaum Spiel-Literatur; die meisten haben sich‘s, mehr oder weniger gezwungen, selber beigebracht; und wie alle bedrohten Populationen haben sie auch einen Verehrtesten: den sagenhaften Klaus Gutjahr in Berlin, den gelernten Fliesenleger und nunmehrigen Bandonion-Virtuosen, den Besten. Und jetzt kommt er kaum mehr zum Spielen, der Gutjahr, erzählt man mir, weil er Tag um Tag Bandoniöner bauen muß, als letzter und einziger auf der Welt, der das noch kann.
Ein Stück noch heut abend, es heißt „Unter Hamburger Flagge“ und ist, endlich, ein wirklich alter Schlager, und gleich geht ein andrer Wind und facht musikantische Glut an; da quetschen sie fesch punktierte Strahlemärschchen aus ihren Kommoden und kriegen glänzende Gesichter; vergessen sind Cats-Memories und Nußknackersuiten und diese Tangos, die sie ja jetzt auch immer spielen, damit auch mal die jungen Leute kommen. Manfred Dworschak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen