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Ohne sie verfault der kalifornische Wein

Hunderttausende mexikanisch-indianischer Wanderarbeiter sind auf illegale Arbeit in den USA angewiesen/ Mexiko ist Arbeitskräftereservoir und Billiglohnland für die Staaten/ Am „Grenzzaun“ stoßen „Erste“ und „Dritte Welt“ aufeinander  ■ Von Matthias Kopp

Während in Europa der Westen den Osten verschluckt, Mauern fallen und Grenzen an Bedeutung verlieren, werden die Differenzen zwischen Norden und Süden oder „Erster“ und „Dritter Welt“ immer größer. Doch mit den Unterschieden wachsen auch die gegenseitigen Verflechtungen. Das wird nirgends deutlicher als an der Grenze Mexiko/ USA, wo diese beiden „Welten“ direkt aufeinanderstoßen. Seit jeher sind die USA bestrebt, natürliche Ressourcen und das Arbeitskräftereservoir des Nachbarlandes zu kontrollieren beziehungsweise direkt ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben.

Die Wege hierzu sind vielfältig — von der Annexion der nördlichen Hälfte Mexikos, der heutigen US- Bundesstaaten California, Arizona und Texas im vergangenen Jahrhundert, über die maquiladora-Industrien, die auf der mexikanischen Seite des Grenzstreifens mit US-Kapital und billigen nationalen Arbeitskräften arbeitsintensive Produktionsvorgänge für transnationale Konzerne leisten, bis hin zum Plan des US-Außenministers Brady, der Mexiko den Erlaß von 30 Prozent seiner Auslandsschulden bringen sollte, dafür aber Maßnahmen wie die Privatisierung staatlicher Betriebe und das Einfrieren von Löhnen (was für die ärmeren Schichten Reallohnverlust bedeutet) verlangt.

Besonders eng sind die Verflechtungen im landwirtschaftlichen Bereich. Während Mexiko einen immer größer werdenden Anteil der Grundnahrungsmittel Weizen und Mais aus den USA importiert, wird auf den ertragreichsten Flächen des Landes für den Export in den reichen Norden produziert. Der weitaus größere Teil der Anbaufläche ist jedoch in kleine Parzellen zersplittert, deren Besitzer nicht über adäquate Produktionsmittel verfügen. Es fehlt an Düngemitteln, Saatgut, landwirtschaftlichen Geräten, und vor allem an Bewässerungssystemen. Millionen indianischer Kleinbauern sehen sich vom Staat verlassen und sind gezwungen ihr Überleben durch Lohnarbeit in den vom internationalen Agrobusineß kontrollierten Regionen auf beiden Seiten der nationalen Grenze zu sichern. Wer in Mexiko das Stigma des indio trägt, erfährt täglich eine Behandlung als bis zu den physiologischen Grenzen ausnutzbares Arbeitstier. Trotz jahrzehntelanger Integrationsbemühungen von Seiten der staatlichen Indianerbehörde und trotz eines gewissen Stolzes auf indianische Vorfahren, der von den Politikern an Nationalfeiertagen herausgekehrt wird, hat sich an dieser Situation wenig geändert.

Allerdings ist in den letzten Jahren Bewegung in das monolithische Machtsystem Mexikos gekommen. Unter der Führung von Cuauhtemoc Cárdenas gelang es der traditionell zersplitterten Linken während des Präsidentschaftswahlkampfes von 1988 erstmals, sich zu vereinigen. Viele indianische Bauern setzten ihre Hoffnungen auf den Kandidaten, dessen Vater, der berühmte General Lázaro Cárdenas, als Präsident Mexikos in den dreißiger Jahren das Erdöl nationalisierte und die Landreform vorantrieb. Zwar löste sich die Cárdenistische Bewegung bald nach den Wahlen wieder in ihre Bestandteile auf, doch zeigte sich, daß die uneingeschränkte Herrschaft der großen „Partei der Institutionalisierten Revolution“ am Abbröckeln ist und, wie viele behaupten, nur noch durch massiven Wahlbetrug aufrechterhalten wird.

Die Weigerung der mexikanischen Gesellschaft, ihre indianischen Mitglieder an den begrenzt verfügbaren Freuden des Wohlstandes teilhaben zu lassen, wird von vielen Angehörigen der 56 ethnischen Gruppen mit der Weigerung beantwortet, sich an die mestizische Nationalkultur anzupassen. Zahlreiche neu gebildete Organisationen fordern nicht nur die Einhaltung von allgemeinen Menschenrechten und staatliche Entwicklungshilfe, sondern auch das Recht auf die eigene Sprache und kulturelle Entfaltung.

Juxtlahuaca, Oaxaca

Durch die Straßen der kleinen Distrikthauptstadt weht ein staubiger Wind. Viele Wohnhäuser stehen leer, die große Kirche ist halb verfallen, die Fenster sind zerbrochen. Am Rande der plaza vertreiben sich ein paar junge Männer die Zeit mit pelota Mixteca, dem mixtekischen Ballspiel, bei dem ein kleiner Kautschukball mit einem Spezialhandschuh über das Spielfeld geschlagen wird. Ein Schild am Ortseingang spricht von 14.000 Einwohnern, aber einer der Ballspieler meint: „Mindestens die Hälfte der Männer von Juxtlahuaca sind im Norden, in den USA.“

Auf der anderen Seite des Platzes steht eine lange Schlange mixtekischer campesinos vor dem kolonialspanischen Gebäude, in dem Kommunalverwaltung, Zivilregister und Gefängnis untergebracht sind. Die meisten tragen abgewetzte, mit Flicken übersäte Kleider und Ledersandalen mit dicken Sohlen aus Autoreifen. Manche sind besser gekleidet, mit einem T-Shirt, auf dem „Hollywood“ oder ähnliches steht, nagelneuen Jeans, hochhackigen Cowboystiefeln und oft mit einer verspiegelten Sonnenbrille. An solchen Requisiten erkennt man den erfahrenen Wanderarbeiter, der bei der Erdbeer-, Trauben- oder Apfelsinenernte im 4.000 km entfernten Kalifornien schon ein paar Dollars verdient hat. Jetzt stehen alle Schlange, um sich eine Geburtsurkunde ausstellen zu lassen, die es ihnen ermöglichen soll, eine begrenzte Arbeitserlaubnis für die USA zu bekommen.

Der Anbau von Mais und Bohnen, die traditionellen Lebensgrundlage der Mixteken, gestaltet sich immer schwieriger. Während die Bevölkerung rapide anwächst, wird das kultivierbare Land immer knapper — eine Spätfolge des spanischen Kolonialismus, der die Rinder- und Schafzucht einführte und durch jahrhundertelange Überweidung weite Teile der Mixteca in Mondlandschaften verwandelte.

Viele Familien arbeiten jahrelang auf den Plantagen von Sinaloa oder Sonora, um genügend Geld zu sparen und eines ihrer Mitglieder al otro lado, auf die andere Seite, ins Gringoland zu schicken. Wer dort einigermaßen Glück hat, kann dann in einer Saison ein paar hundert Dollar ansammeln und ins Dorf zurückschicken. Zuerst muß allerdings ein hoher Einsatz gezahlt werden: 50 Dollar für das Busticket zur Grenze; 150 bis 300 Dollar für den coyote, den Führer, der die sicheren Wege über die grüne Grenze kennt; die Transportkosten zum Arbeitsplatz in Kalifornien oder einem der weiter entfernten Staaten wie Oregon, Washington oder Idaho; 50 bis 300 Dollar für eine gefälschte Arbeitserlaubnis; genügend Geld, um Zeiten ohne Arbeit zu überbrücken und korrupte Polizisten und Zöllner zu schmieren.

500 Dollar müssen also mindestens als Startkapital gerechnet werden, eine Summe, die bei Monatslöhnen von zirka 80 Dollar auf den Plantagen von Sinaloa nur schwer aufzutreiben ist. Viele Kleinbauern verkaufen deshalb ein Stück Land oder Vieh, oder leihen sich Geld von lokalen Kredithaien, die zwischen 15 und 20 Prozent Zinsen im Monat verlangen.

San Juan Mixtepec

Als ich mit Jesús abends durch die verlassenen und stockfinsteren Dorfstraßen lief, hat er drei Steine in der Hand, um uns ein Rudel von halbwilden kläffenden Kötern vom Leib zu halten. Jesús hat zehn Jahre lang in den USA gearbeitet, jetzt ist er wieder ins Dorf zurückgekommen. In seinem Hosenbund steckt eine in Zeitungspapier eingewickelte Pistole — nur zur Sicherheit. Der Beauftragte für die kommunalen Ländereien des Dorfes weiß, daß Jesús und seine companeros ihn aus dem Amt vertreiben wollen, weil er Gemeindeland an Nachbargemeinden verkauft und den Gewinn in die eigene Tasche gesteckt hat. Der Mann ist verärgert, und es ist ratsam, vor seinen Pistoleros auf der Hut zu sein. Jesús kommt von einer geheimen Versammlung des „mixtekischen Volksverteidigungskomitees“, einer kleinen Gruppe rebellischer junger Wanderarbeiter. Man hat beschlossen, die Dorfbewohner aufzufordern, ihn abzusetzen. Außerdem wurde Jesús von den companeros beauftragt, nach Los Angeles zu fahren und dort 2.000 Dollar entgegenzunehmen, die von einer christlichen Organisation für den Aufbau einer Lebensmittelkooperative im Dorf gespendet wurden. Mit diesem Geld wollen die companeros in der Stadt Nahrungsmittel einkaufen und sie zu Preisen, die weit unter denen der lokalen Händler liegen, im Dorf vertreiben.

Eine Handvoll Geschäftemacher monopolisiert seit der mexikanischen Revolution die politische Macht in Mixtepec. Außer ihren Kramläden besitzen sie die besten Ländereien am Flußufer und verleihen Geld zu Zinsen von 15 bis 20 Prozent im Monat. Sie sind definitiv die Reichsten am Ort, auch wenn man das ihren schäbigen Kleidern und ihren bäuerlichen Wohnhäusern nicht ansieht. Tatsächlich sind sie die einzigen, die von ihren Einkünften im Dorf leben können. Alle anderen, indianische Bauern mit kleinen Parzellen vertrockneten Landes, sind gezwungen, für mehrere Monate im Jahr das Dorf zu verlassen und in den USA zu arbeiten. Frauen, Alte und Kinder bleiben zurück und kümmern sich um den Acker und die Tiere, für sie wäre die Überquerung der Grenze in den Hügeln bei Tijuana oder in der Wüste von Arizona zu gefährlich.

Viele fahren deshalb mit der ganzen Familie auf die großen Plantagen in den nördlichen Bundesstaaten Sinaloa, Sonora und Baja California an der Pazifikküste, wo für acht Monate des Jahres zigtausend billiger Arbeitskräfte gebraucht werden. Für einen Tageslohn von drei bis vier Dollar können hier Männer, Frauen und Kinder Tomaten und Erdbeeren für US-amerikanische Supermärkte pflücken und möglicherweise genug Geld sparen, um ein Familienmitglied über die Grenze in die USA zu schicken. Auf einer Farm in Kalifornien oder Oregon verdient man dann in einer Stunde so viel wie in Mexiko an einem Tag, und wenn man sehr sparsam lebt, kann man der Familie jeden Monat ein paar Dollars schicken. Ganz Mixtepec lebt von den Einkünften der Wanderarbeiter. Wenn im Norden Erntezeit ist, und sich ganze Schulklassen auf den Weg machen, um im Gringoland Geld zu verdienen, strömen die grünen Scheine ins Dorf. „Jeden Monat kommen im Telegrafenamt Überweisungen im Wert von 400 Millionen Pesos (zirka 180.000 US-Dollar) an“, sagt Jerónimo Cruz Bautista, der Chef des etwa 35.000 Einwohner zählenden Bezirks: „Aber kaum etwas von diesem Geld bleibt hier, denn die Leute geben fast alles für Produkte wie Bier, Limonade und Kleidung aus, die aus der Stadt gebracht werden.“

In den zahlreichen Orten der Mixteca haben sich deshalb Vereine von Wanderarbeitern gegründet, die Gelder sammeln, um Projekte wie Trinkwasserversorgung, Bewässerungskanäle oder einen Schulbau zu organisieren. Es gab im Norden viel zu lernen — technische Dinge, aber auch politisches Selbstbewußtsein. Viele Wanderarbeiter haben während ihrer Emigration Erfahrungen in der Gewerkschaftsbewegung gesammelt und bei Streiks und Landbesetzungen festgestellt, daß sie Veränderungen bewirken können. Für sie gehört das Bild vom passiven und geduldigen Indianer der Vergangenheit an.

Jesús zeigt deutlich, wie ihn das Leben in den USA verändert hat. Er besitzt nicht nur ein zweistöckiges Haus aus Blocksteinen, sondern auch einen dicken Amischlitten, der zwar auf den unasphaltierten Straßen der Gegend ziemlich unbrauchbar ist, bei den Dorfgenossen jedoch äußerst respekteinflößend wirkt. Im Zimmer hängt ein Poster von Rambo, daneben Ché Guevara. Aber auch auf andere Weise verleiht Jesús seiner politischen Einstellung Ausdruck: Sein zweijähriger Sohn heißt Lenin, der Hund hört auf Trotzki. Sara, seine Frau ist vom selben revolutionären Geist inspiriert: „Wenn es in Mexiko so weiter geht, dann machen wir es wie in Nicaragua. Ich bin die erste, die dann ein Gewehr in die Hand nimmt“, sagt sie lachend, während sie eine tortilla über der Glut wendet. Sie kocht lieber auf offenem Feuer in der Kochhütte hinter dem Haus als drinnen auf dem neuen Gasherd.

Jesús' Mutter wohnt schon lange nicht mehr in Mixtepec. Zusammen mit einigen ihrer Söhne, Töchter und Enkel lebt die Witwe in einer kleinen Hütte aus Wellblech, dreitausend Kilometer weiter im Norden, im Tal von San Quintin. Ein paar hundert Leute aus Mixtepec haben sich hier mit anderen indianischen Wanderarbeitern zusammengetan und ein Stück Wüste besetzt. Der Staat toleriert die improvisierte Siedlung, die von ihren Bewohnern nach Ricardo Flores Magón benannt wurde, einem Anarcho-Syndikalisten, der während der mexikanischen Revolution mit seinen Truppen durch Baja California streifte.

San Quintin, Baja California

Ein großer staubiger Platz, umgeben von den Hütten der Landarbeiter, wackelige Buden, zusammengeschustert aus Tomatenkisten, ausgedienten Reklametafeln und Plastikfolie. Ein scharfer Wind wirbelt Wolken roter Erde auf. In der Mitte des Platzes steht ein leerstehendes Blocksteinhaus — das Schulgebäude. Ein kleiner Mann mit Sombrero und indianischen Gesichtszügen richtet seine Worte in gebrochenem Spanisch an eine Gruppe von Jugendlichen, die herumstehen und offensichtlich nichts besonderes zu tun haben:

„Als ich 1978 nach Sinaloa kam, da haben wir die Gewerkschaft aufgebaut. Drei Tage und drei Nächte demonstrierten wir vor der Regierung, dann kam es heraus, daß es Weihnachtsgeld gibt. Das hatten die uns nie erzählt! Wenn wir mit dieser Bewegung nicht weitermachen, dann geht es abwärts, dann machen die patrones wieder, was sie wollen, als ob es keine Arbeitsrecht gäbe. Und dann gibt es einige unter uns, die sind schon erwachsen, vierzehn, fünfzehn Jahre alt und machen nur Unfug — das ist schlecht, companeros! Gestern sagte mir dieser patron Miguel Garcia: ,Kinder wie dieses‘“, er zeigt auf einen etwa achtjährigen Jungen, „,die werde ich nicht mehr anstellen, die arbeiten nicht‘, aber dieser Junge schneidet 80 oder 90 Eimer Tomaten am Tag! Warum kommt nicht mal einer von denen mit uns, und wenn er 150 Eimer schneidet, dann machen wir das auch. Es ist hübsch, den Leuten bei der Arbeit zuzusehen, aber sich selbst in der Sonne bücken, das ist nicht dasselbe.“ „Was du nicht sagst, Lopez“, meint einer der Jugendlichen ironisch.

Im Tal von San Quintin, vier Autostunden von der Grenze entfernt, produzieren mexikanische Unternehmer mit dem Kapital US-amerikanischer Konzerne Gemüse, vor allem Tomaten und Erdbeeren für den US-Markt. Frische Erdbeeren und Stangentomaten müssen von Hand gepflückt werden, damit sie dem Kunden in perfekter Qualität präsentiert werden können. Diese Produkte sind nur wettbewerbsfähig, weil die Lohnkosten auf das gesetzliche Minimum gedrückt werden, während die Arbeiter täglich unbezahlte Überstunden leisten. Die Löhne (10.000 Pesos am Tag — zirka 4,30 US-Dollar) sind unter den extra harten Arbeits- und Lebensbedingungen nur für die Ärmsten der Armen attraktiv, hauptsächlich indianische Wanderarbeiter aus dem Süden des Landes und angrenzenden Gebieten Zentralamerikas. Sie kommen — oft mit der ganzen Familie — über Tausende von Kilometern angereist, da sie sich von ihren Feldern nicht mehr ernähren können und aufgrund mangelnder Lese-, Schreib- und Spanischkenntnisse keine Chance haben, bessere Jobs zu bekommen.

Während der Erntezeit werden sie zu Tausenden in Blechbaracken untergebracht, die von den Plantagebesitzern am Rand der Felder aufgestellt wurden. In einem drei mal drei Meter großen Raum werden zwei Familien oder zehn bis zwölf alleinstehende Männer zusammengepfercht. Tagsüber herrscht glühende Hitze, nachts wird es kalt, in den Wintermonaten friert der Boden. Die meisten haben als Schlafunterlage nur einen Pappkarton, viele Kinder sterben oder sind ständig krank. Oft gibt es wochenlang kein Trinkwasser, manche trinken dann aus Unwissenheit das mit Pestiziden verseuchte Wasser aus den Bewässerungsgräben der Felder.

Die Barackencamps sind mit Stacheldraht umzäunt, an den Eingängen stehen bewaffnete Wächter der patrones. In den Lagern, die oft weit ab von Straßen und Siedlungen liegen, gibt es keine Schulen, keine medizinische Versorgung, von Toiletten, Duschen oder Küchen ganz zu schweigen. Viele benutzen San Quintin als Sprungbrett in die USA. Während Frauen und Kinder hier Erdbeeren pflücken, ziehen der Mann und die älteren Söhne los, um ihr Glück auf der anderen Seite, im Gringoland, zu versuchen.

Genauso gut kann der Trip aber auch in einem Desaster enden. Eine Frau berichtet: „Seit fünf Jahren bin ich hier im Norden. Ich habe fünf Kinder. Vor einem Jahr ist mein Mann an einer Krankheit gestorben. Jetzt habe ich kein Geld, um ins Dorf zurückzufahren, und für Frauen gibt es im Moment keine Arbeit.“ „Wovon leben Sie denn?“ „Alles gepumpt, manchmal geben die Leute den Kindern eine Tortilla.“ Ein Mann erzählt mit Tränen in den Augen: „Vor drei Monaten bin ich gekommen, weil man sagte, hier kann man gut verdienen. Dann wurde ich krank, und bis jetzt habe ich keine Arbeit gefunden. Ich mußte Geld leihen, um hierher zu kommen, dann mußte ich Geld für den Arzt leihen. Und meiner Familie im Dorf habe ich noch keinen Peso geschickt!“

Die Gringos rauschen lautlos in ihren riesigen silbernen Wohnmobilen durch den Ort — in San Quintin hält keiner.

Arvin, California

Brütende Hitze liegt über dem kleinen Ort im zentralen Tal von Kalifornien. Auf den Straßen sind nur Latinos zu sehen, die meisten Schilder an Geschäften und Kneipen sind in Spanisch geschrieben. Aus einem Billardsalon dröhnt laute Ranchera- Musik.

In alle vier Himmelsrichtungen ziehen sich endlose Reihen von Weinstöcken und Mandel- und Olivenbäumen. Die Besitzer dieser Güter leben irgendwo weit weg, hier sind nur Verwalter, Vorarbeiter und Handlanger.

Im Schatten eines Baumes an einer Straßenecke hat sich nach Feierabend eine kleine Gruppe indianischer Arbeiter versammelt. Man unterhält sich auf Mixtekisch und zischt ein paar kühle Dosen Bier. Ein Polizeiwagen hält an, zwei schwergewichtige cops mit fleischigen Gesichtern steigen aus, schreien die gut einen halben Meter kleineren Männer auf Englisch an, treten die Bierdosen um und verziehen sich dann wieder.

Ein paar Blocks weiter ein kleiner Park mit grünem Rasen und schattigen Bäumen, der zentrale Treffpunkt der mixtekischen Arbeiter. Es muß ihnen mehr als komisch vorkommen, daß die Gringos bei vierzig Grad im Schatten stundenlang kostbares Trinkwasser auf den Rasen gießen. Man entspannt sich, tauscht Informationen aus und genießt Brathähnchen mit „Seven Up“ und tortillas aus dem libanesischen Gemischtwarenladen an der Ecke. Unter den Arbeitern sind viele aus dem Mixtepec, auch Jesús ist dabei. Er ist von Los Angeles aus hier hergekommen, „um die companeros ein bißchen zu organisieren“, wie er sagt. Hunderte von ihnen schlafen nachts im Park, die meisten anderen unter den Mandelbäumen. Manche bekommen dafür auch noch „Miete“ vom Lohn abgezogen. In dem kleinen Provinzstädtchen Arvin gibt es keinen Wohnraum für ein paar tausend illegaler Saisonarbeiter, ohne die der kalifornische Wein am Stock verfaulen müßte. Jesús hat deshalb mit den companeros bei der Stadtverwaltung protestiert — mit geringem Erfolg: Eine wohltätige Vereinigung mietete für die Saison drei kleine Einfamilienhäuser an und stellte sie den Arbeitern zur Verfügung.

Fresno, California

Fresno, eine mittelgroße Stadt inmitten endloser Wein- und Gemüsepflanzungen. Manche Farmbesitzer vermieten ihre ausgedienten Scheunen an die Wanderarbeiter: pro Nacht und Mann einen Dollar, wird gleich vom Lohn abgezogen.

Diejenigen, die länger bleiben, tun sich in kleinen Gruppen oder mit Verwandten zusammen und mieten ein Haus. Das ist hier auf dem Land relativ billig. Und manche vermieten dann an ihre Landsmänner weiter und machen dabei einen guten Schnitt. So zum Beispiel ein Mann aus Oaxaca, der allgemein als El Pajaro, der Vogel, bekannt ist. „Die Leute nennen ihn so, weil er kommt und geht wie ein Vogel“, erklärt eine Arbeiterin: „Er fährt runter zur Grenze und holt Illegale rüber, dann vermittelt er ihnen Jobs und vermietet ihnen für zwei Dollar pro Nacht eine Bretterbude auf seinem Hinterhof.“

1986 gründeten mixtekische Arbeiter in Fresno eine Organisation, die sich in ihrem Statut vornimmt, „die mixtekischen und mexikanischen Wanderarbeiter zu vereinen, ihre grundlegenden Menschenrechte zu verteidigen und gegen die Diskriminierung durch Einwanderungspolizei, Unternehmer und Verkehr zu kämpfen“.

Leonor Rojas, eine junge Mixtekin erklärt: „Unsere Organisation, die ,Asociación Civica Benito Juarez‘ wurde gegründet, weil es hier viele Farmer gibt, die Rassisten sind und zu wenig bezahlen. Hier muß man arbeiten, um zu überleben, und die Leute nehmen jeden Job, auch wenn der Lohn zu niedrig ist. Man hat uns betrogen und zu viele Steuern abgezogen, deswegen haben wir uns organisiert, um unsere Rechte zu verteidigen.“

In Fresno findet die „Asociación“ Unterstützung durch eine hispanische Fernsehstation und den Sender „Radio Bilingüe“, dessen Direktor, Hugo Morales, selbst aus einer Familie mixtekischer Landarbeiter stammt. Morales hat den sozialen Aufstieg geschafft — er ist Harvard- Absolvent und versucht heute, durch seine Beziehungen den Einwanderern zu helfen: „In unserer indianischen Kultur haben wir einen starken Gemeinschaftssinn erhalten. Jeder ist verpflichtet zur Gemeinschaft beizutragen. In unseren Dörfern in Oaxaca versammeln sich die Leute zur kommunalen Arbeit, um eine Schule zu bauen, eine Brücke, oder um die Straßen sauberzumachen. Als Mixteke sehe ich das hier in Fresno genauso: Ich benutze den Sender, um der Gemeinschaft zu dienen, um die Leute über ihre Rechte zu informieren und ihnen Kraft zu geben.“

Der Zugang zu den modernen Medien hat eine Katalysatorwirkung auf die Organisation der indianischen Wanderarbeiter. Fotokopierte Schriften, Radiodurchsagen, Fernsehinterviews mit Führern ihrer Organisation stärken das Gruppengefühl, auch über die Grenzen traditionell isolierter Dorfgemeinschaften hinaus.

Schätzungsweise zehntausend Mixteken arbeiten jedes Jahr allein in Kalifornien, noch ein paar tausend in den anderen Agrarzonen der US- Westküste. „Wer heute eine Lösung für die Probleme der Mixteca, einer der ärmsten Regionen in Mexiko finden will, der muß über die Grenze hinaussehen und die USA mit einbeziehen“, sagt Hugo Morales, der Radiomann.

San Diego County, California

Ein Lieferwagen hält an einem kleinen Highway auf der Kuppe eines von Macchia und wilden Salbeisträuchern bewachsenen Hügels. Der Fahrer steigt aus, läutet eine Glocke und klappt die Seitenwand des Wagens hoch. Nach wenigen Minuten kommen Männer in schlammverkrusteten Klamotten aus dem Gebüsch und holen sich bei dem mobilen Imbißstand für illegale Landarbeiter einen heißen Kaffee oder ein Sandwich.

Als am Horizont das Brummen eines zweimotorigen Sportflugzeugs zu hören ist, geht die Klappe sofort hoch, der Wagen fährt weiter, und die Männer verkriechen sich wieder im Gebüsch. Wenn die hellgrüne Maschine der Einwanderungspolizei über dem Hügel kurvt, ist kein Mensch mehr zu sehen. Ungefähr zweihundert Leute, die meisten von ihnen Mixteken, leben versteckt zwischen den Büschen, in Hütten aus Karton, Brettern und Plastikfolie. Manche haben sich ein Loch von der Größe eines Grabes in den Boden gegraben, es mit Brettern, Erde und Zweigen abgedeckt und verbringen darin die Nächte.

Auch die relativ kleinen Farms im County von San Diego sind auf die Arbeitskraft von Einwanderern angewiesen, die aufgrund ihres Status als „illegale“ den Mindestlohn von 4,25 US-Dollar, überhöhte Arbeitszeiten und miserable Lebensbedingungen in Kauf nehmen müssen. Die „Höhlenmenschen“ von San Diego, größtenteils Indianer aus dem Süden Mexikos und Guatemala leben in nächster Nachbarschaft zu den neureichen Yuppies, die die ausgedehnten Villenvororte der expandierenden südkalifornischen Metropole bevölkern.

Die ganze Welt auf einer Bühne — Fiesta in Mixtepec

Soziale Konflikte sind vorprogrammiert: Weiße Bürgerinitiativen tun sich zusammen, um gegen Mexikaner zu protestieren, die in ihre Vorgärten pinkeln, man fürchtet um die Sicherheit protestantischer Schulmädchen. Ländliche Halbstarke machen einen Sport daraus, auf mexikanische Landarbeiter zu schießen.

Ein dreitausend Kilometer langer löchriger Gartenzaun symbolisiert die Grenze zwischen „Erster“ und „Dritter Welt“, aber in Wirklichkeit ist sie unsichtbar und läuft quer durch San Diego County.

Ein Lkw holpert durch Kiefernwälder über die steinige Platte, die Mixtepec mit dem Provinzstädtchen Tlaxiaco, dem „Paris der Mixteca“, wie es seine Einwohner rühmen, verbindet. Die Ladefläche ist voll besetzt. Männer, die den Sombrero tief ins Gesicht gezogen haben, Frauen in ihre weiten Schals eingehüllt, um sich vor dem Staub zu schützen. Alle haben Kisten, Säcke und Taschen bei sich, einige halten einen großen Radiorekorder auf dem Schoß, Trophäe monatelanger Arbeit in der Fremde. Das Schweigen der Passagiere bricht erst, als weit unten im Tal das Dorf zu sehen ist.

In Mixtepec laufen die Vorbereitungen für das Fest auf Hochtouren. Der Kirchhof wird mit bunten Girlanden geschmückt, auf dem Dorfplatz drehen sich Karussells, laute Musik schallt aus einem Lautsprecher vor dem Büro des Dorfpräsidenten. In schwarze Tücher eingehüllte Frauen schichten auf dem Boden kleine Häufchen von Tomaten, Chilis oder Avodados vor sich auf — die spärlichen Erträge ihrer Gemüsegärten. Aus den umliegenden Weilern kommen Männer, Frauen und Kinder, die schwere Lasten auf dem Rücken tragen.

Jugendliche Rebellen haben nachts die Häuserwände am Platz mit roter Farbe beschriftet: „Während das Volk arbeitet, bereichern sich die Politiker!“ und „Nieder mit der schlechten Regierung!“

Ein Wagen mit einem großen Lautsprecher fährt durch das Dorf. Von einer verkratzten Schallplatte ertönen revolutionäre Lieder und eine Rede Ché Guevaras.

Im Haus des mayordomo sind die Frauen dabei das Essen für viele Gäste zuzubereiten. Riesige Töpfe stehen auf dem Feuer im Hof, tortillas werden gebacken, Kisten mit Getränken herangeschleppt. Der mayordomo muß am Festtag alle in seinem Haus bewirten, er hat zu diesem Zweck zwei Ochsen geschlachtet und die Dorfkapelle angeheuert. Außerdem ist er verpflichtet, die Figur des Heiligen in der Kirche zu schmücken, für Kerzen, Weihrauch, Blumen und Feuerwerk zu sorgen. Wenn das Fest gut werden soll, sind die Ausgaben hoch. Wer kein Land oder Vieh zu verkaufen hat, muß für ein paar Jahre das Dorf verlassen, um im Norden genug Geld zu verdienen. Denn einmal im Leben muß jeder Mann mayordomo gewesen sein, das verlangt die Gemeinschaft, der er angehört.

Der Markt füllt sich, es riecht nach gebratenem Ziegenfleisch, für die jungen Burschen findet ein Basketballturnier statt, fahrende Händler aus der Provinzstadt bieten Regenschirme, Plastikgeschirr und anderen Luxus an.

Kirchenglocken läuten, Raketen knallen, nach der Messe zieht eine Prozession, großenteils Frauen in schwarzen Tüchern über den Markt, angeführt von den Trägern der hölzernen Statue Johannes des Täufers und der Dorfkapelle, die auf alten Blechinstrumenten bekannte Volkslieder in polyphonen multirhytmischen Freejazz uminterpretiert.

Vor dem Verwaltungsgebäude hält ein Vertreter des regionalen Lehrerverbandes eine Rede, in der Demokratie und das Recht der Lehrer, sich außerhalb staatlicher Kontrolle zu vereinigen, eingefordert werden. „El pueblo unido jamás será vencido!“ („Das vereinte Volk wird nie besiegt werden!“) rufen er und seine Kollegen mit erhobener Faust, während ein Polizist gelangweilt in der Nase bohrt und die Frauen auf dem Platz ihren Geschäften nachgehen. Einer der jungen Rebellen übersetzt den Inhalt der Rede ins Mixtekische und stellt weitergehende Betrachtungen über die politischen Verhältnisse an.

Dann tauchen auf einmal von überall und nirgends maskierte und verkleidete Männer auf. „Wir kommen vom Planeten“, sagen sie in hoher Fistelstimme und machen sich über die komischen Erdbewohner lustig. Sie tanzen wild, rufen laut aus, machen sexuelle Anspielungen und klauen den Reichen das Essen vom Teller. Einige von ihnen sind als Frauen verkleidet, andere tragen Schirmmützen und Fräcke mit Aufschriften wie „Kawasaki“ oder „Jesus is Love“.

Schließlich ein bäuerliches Spiel mit Opfercharakter: Über die Dorfstraße wird ein Seil gespannt, an dem ein bunt geschmückter Hahn mit den Füßen festgebunden ist. Die jungen Burschen des Dorfes versuchen vom Pferd aus, den Kopf des wild flatternden Vogels zu packen und ihn abzureißen. Doch die Hälse sind zäh und dehnbar, es dauert eine ganze Weile, bis der Sieger mit der blutigen Trophäe weggallopiert und der nächste Hahn aufgehängt wird.

Das Fest dauert drei Tage, manch einer bricht dann erschöpft und betrunken zusammen, in der Gewißheit das wichtigste öffentliche Ereignis dieser lokalen Gesellschaft miterlebt zu haben. Noch etwas berauscht machen sich einige am nächsten Tag schon wieder auf den Weg nach Idaho, Oregon oder Florida.

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