piwik no script img

Der Mann, der aus dem Apparate kam

Die Nobelpreisehrung trifft Michail Gorbatschow auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn  ■ Von Erich Rathfelder

Russisch zärtlich klingt es, das „Gorbi“. Das Wort suggeriert nicht nur Nähe und kumpelhaftes Einverständnis. Es markiert wie kein anderes die Aufgabe der Feindbilder. Ist es aus der Sponti-Sprache entlehnt und anfänglich nur, zumindest in Deutschland, in der Großstadt-Szene gebraucht worden, so wird es schon 1987 auch von der „seriösen“ Politik aufgegriffen. Und langsam begannen selbst die konservativsten HüterInnen der marktwirtschaftlichen Freiheit sich nach der Wärme der von Gorbi weit ausgebreiteten Arme zu sehnen. Fast alle fanden einen Kuschel-Platz. Der Kalte Krieg war überwunden. Die neue Zeit hatte begonnen.

Verwundert rieben sich die Sowjetbürger die Augen, als 1988 die Deutschen ihrem Parteichef Ovationen entgegenbrachten, war für sie doch noch lange nicht ausgemacht, ob sich ihr Parteichef nicht letztendlich doch als ein ausgebuffter Apparatschik entpuppen könnte. Zwar wissen auch dort nur wenige um die Kritik einiger westlicher UdSSR- Spezialisten oder von seiten der versprengten Grüppchen von Trotzkisten, die bis heute Gorbi partout als die letzte Karte der Nomenklatura sehen wollen.

Gleichwohl sitzt das Mißtrauen tief. Und das hängt nicht allein mit der schlechten Versorgungslage in der Pertestroika-Zeit zusammen. Denn „einer von ihnen“ ist er ja schon lange nicht mehr.

Das gilt weniger für seine ersten Jahre. Da war der kleine Michail Sergejewitsch, der in die Zeit des stalinistischen Terrors auf dem Lande — am 2.3. 1931 im Dorf Priwolnoje, in der Region Stawropol — geboren wurde, einer von jenen, die Glück hatten. Denn auch die aktive Mitarbeit in der Kolchose, die der Vater leitete, war damals noch nicht eine Garantie für das Überleben. Aber als der Jugendliche 1952 Mitglied der KPdSU wurde und dann nach seinem Jura-Studium in Moskau im Komsomol aufstieg, 1970 sogar 1. Parteisekretär wurde, hatte er den Sprung in die herrschende Schicht geschafft. Seit Oktober 1980 im Politbüro, ist er sogar, wenn man so will, das letzte Überbleibsel aus der Breschnew- Zeit. Und dieser Mann hat mit seinem viel beschriebenen taktischen Geschick die alte Macht von innen und außen fast ausgehebelt.

Wie konnte dies aber geschehen, gerade von jemandem, der so eng mit den hermetisch abgeschlossenen marxistisch-leninistischen Denk- und Machtstrukturen des Systems verbunden ist? Oder andersherum: Ist die Annahme, er hätte den Bruch mit dem System tatsächlich vollzogen und geplant, selbst nicht noch ein Relikt der alten Denktradition? Vielleicht kommt die Einschätzung, Getriebener und Antreiber einer vorher in diesen Außmaßen gar nicht eingeschätzten historischen Dynamik gleichermaßen zu sein, der Wirklichkeit am nächsten.

Seine wichtigsten und treuesten Anhänger, das wurde gerade mit dem Aufbruch von „unten“ in den letzten Monaten deutlich, kommen nicht aus dem Volke, sondern aus der gleichen Schicht wie er selbst. Die nach 1968 neue aufgenommenen Diskussionen über den Marxismus unter Parteiintellektuellen hat seine Sichtweise mitgeprägt. Bei den Verfassungsdebatten der letzten Tage gewinnt die Identität Gorbis an Konturen. Er ist ein Reformkommunist, der es nicht aufgegeben hat, das System in ein „wirklich“ sozialistisches zu transformieren.

Die Umbrüche in Ostmitteleuropa zeigen aber, daß die Dynamik der inneren Entwicklung dieser Gesellschaften über Gestalten, die wie Dubcek denken, hinweggegangen ist. Wenn der Präsident der Sowjetunion jetzt den höchsten Gipfel der Berühmtheit und der Anerkennung erklommen hat und sich auf die gleiche Stufe wie Andrej Sacharow, dem bisher einzigen Friedensnobelpreisträger in der Sowjetunion, stellen darf, ist ihm die Ehrung noch rechtzeitig zuteil geworden. Wie lange er sich auch noch an der Macht halten kann, ist ungewiß. Tröstlich bleibt, daß er mit seinem „Neuen Denken“ nicht nur die KPdSU verändert hat. Dieses „Neue Denken“ wird dem undemokratischen „alten“ Denken Rußlands, das wiederauferstanden scheint, widerstehen müssen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen