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Deutschstunde: Opfer so weit das Auge reicht

Historiker der Humboldt-Universität rücken die eigene Geschichte zurecht/ Disziplinierte Ex-Studenten wurden geschnitten  ■ Von Götz Aly

Der Filmsaal der Berliner Humboldt-Universität ist an diesem Freitag nachmittag nur schütter besetzt. Am Podium Professor August Rüger, derzeit Leiter der Sektion Geschichte. Er spricht zum Thema „Rückblick und Ausblick“. Das vergangene Jahr sei dadurch gekennzeichnet, daß „die politische Krise der DDR im letzten Oktober der Explosion des Volkswillens zustrebte“. Wobei damals, auch das hält Rüger fest, nur ganze zwei Sektionsmitarbeiter mitstrebten. Etwa im Januar begriff auch er „das Aufbegehren der Studenten als Möglichkeit mitzutun“. Und endlich steigerte sich der Elan des Professors derart, daß „angepackte Ereignisse zum Durchbruch gelangten“.

Schwarze Flecken in der eigenen Geschichte

Der Ausblick ist trist. Die einst so stolze Sektion, („Historiker sein, heißt Bewußtseinsbildner sein!“) wird demnächst, dank einer Entscheidung „von oben“, zum Institut schrumpfen. Schnell wendet sich Rüger wieder seinem eigentlichen Thema zu — dem Rückblick, dem etwas tieferen Rückblick. Für viele der spärlichen Zuhörer das Signal, sich endlich ins Wochenende zu verdrücken. „Im wahrsten Sinn des Wortes erschreckend“, so sagt Rüger,„ sind die schwarzen Flecken in der Geschichte der Sektion.“ Im Jahre 1956 wurden Studenten zu Gefängnisstrafen bis zu sechs Jahren verurteilt, weil sie Leonhards Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder diskutiert hatten, andere 1968/69 relegiert, weil sie gegen den Einmarsch der DDR-Truppen in die Tschechoslowakei protestierten. 1972 wurde eine Studentin zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Sie besaß Bücher von Solschenizyn, Djilas etc. (= „staatsfeindliche Hetze“). Eine Kommilitonin aus derselben Seminargruppe wurde verhaftet und später in die Bundesrepublik abgeschoben, neun weitere Studenten für ein bis zwei Jahre, eine Studentin auf Lebenszeit relegiert. Ähnliches, wenn auch milder, wiederholte sich gelegentlich der Ausbürgerung von Wolf Biermann. All das geschah nach Rüger, weil „von außen und oben her in die Sektion eingegriffen und Angehörige des Lehrkörpers unter Druck gesetzt wurden“: Hochschulministerium, Staatsanwaltschaft, Stasi etc.pp. Akten zu den Vorgängen sind im übrigen nicht auffindbar. Bedauern, Entschuldigung und bevorzugte Einstellung seien zur Rehabilitierung der Betroffenen geboten. Der Anregung einer 1972 relegierten Frau folgend schlägt der Sektionsleiter vor, am „Mittwoch, den 31. Oktober oder am Freitag, den 2. November 1990“ eine öffentliche Veranstaltung durchzuführen. Titelvorschlag: „Geschichte vor dem Richterstuhl“. Kein Beifall. Nicht die geringste Reaktion im Publikum. Rüger hält diese Veranstaltung für notwendig, ob er sie gegen seine Kollegen durchsetzen kann, erscheint ihm unsicher.

Ein Student fragt nach den Sektionsangehörigen, „die die Dinge zu verantworten haben“. Wo es Opfer gibt, gibt es Täter, gibt es moralische und auch strafrechtliche Schuld. „Nein“, antwortet Rüger, die Akten seien weg, persönliche Verantwortung schwer bestimmbar — „wo kann hier Bestrafung einsetzen?!“ Die Sektionsmitglieder sollten sich „unterhalb dieser Schwelle der Aufklärung zur Verfügung stellen“. Der Professor warnt: Man dürfe es auch nicht so machen wie 1933 und 1945, als zunächst Juden und Liberale und dann Nazis und vermeintliche Nazis aus den deutschen Hochschulen verjagt wurden. Die damit begründete Tradition des Unrechts dürfe man nicht 1990 fortsetzen... So einfach also ist die Haupttendenz, hätte man früher gesagt, der deutschen Geschichte: Opfer so weit das Auge reicht, „insbesondere auch in den Grundorganisationen der SED“, die schweren Repressalien ausgesetzt gewesen seien. Juden, Nazis, Hochschulkader — allen ging es gleichermaßen dreckig. Gut, daß uns die Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin wenigstens als Institut erhalten bleibt.

Aber unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschend, umgeben von feixend-zustimmend aufblickenden Studentinnen meldet sich Professor Kurt Pätzold zu Wort. Er war während der Biermann-Affäre Sektionsleiter, ist Faschismusforscher von internationalem Rang (so kenne ich ihn), „Altstalinist“, „Zyniker“ (so kennen ihn andere, zwei Stühle weiter sitzende Zuhörerinnen). Pätzold geht zum Podium, zieht ein vorbereitetes Manuskript aus der Tasche.

Nachbesserung der eigenen Geschichte

Abgesehen davon, daß er an der von Rüger vorgeschlagenen öffentlichen Veranstaltung nicht teilnehmen könne („wegen auswärtiger Verpflichtungen“) habe er zur Sache einiges zu sagen. Erstens halte er nichts von der inzwischen üblichen „Nachbesserung der eigenen Biographie“. Zweitens: „Ich bin zu nichts gezwungen, nicht bespitzelt worden. Folgenlos konnte ich mich von unangenehmen Dingen zurückziehen. Ich trage die Verantwortung für die eigenen Handlungen.“ Dazu gehört auch die Beteiligung an zwei Relegationsverfahren — 1968 und 1977! Pätzold: „Die Entscheidung betrachte ich heute als ungerecht. Ich entschuldige mich und bitte die Betroffenen diese Entschuldigung anzunehmen.“ Ein Manneswort — oder doch nur eine kalkulierte Flucht nach vorn? Unter Berufung auf Arnold Zweig („Nur das Verständige ist auch erträglich“, 1939) folgen Erklärungen seines früheren Verhaltens: „Machtfrage“, zu enges „Freund-Feind-Denken“, die auf Zeit relegierten Studenten wurden nicht „als Gesellschaftsfeinde gekennzeichnet“, sie sollten sich ändern, „als Änderungsmöglichkeit wurde die Produktion angesehen“. Rückblickend betrachte er die „Disziplinarverfahren als Sargnägel der Gesellschaft der DDR“.

Selbstbewußt schnarrt der Redner seine „Erklärungen“, wo nur ein Stocken, das Ringen um jeden Satz seinen Worten Resonanz geben könnte. Kein Beifall. Kein Widerspruch. Kälte. Unfähigkeit zum gemeinsamen Gespräch. Mindestens drei der gemaßregelten, verhafteten, einfach hinausgeworfenen früheren StudentInnen sitzen im Saal. Man hat sie durchaus erkannt, sie übersehen, geschnitten... Niemand gibt ihnen die Hand, bittet sie gar zum Podium. Sie schweigen. „Was sollst du hier noch sagen?“ sagt eine von ihnen. Sie hat ein Jahr im Gefängnis gesessen, wurde ausgebürgert und lebt als Taxifahrerin in West-Berlin. Die Redner, das Publikum wollen keine Konfrontation. Sie brauchen ganz anderen Balsam. Klaus Vetter, ein früherer Parteisekretär der Sektion, bringt diese Stimmung auf den Punkt: „Der Vorwurf, daß wir hier nur wissenschaftliche Provinz waren, muß entschieden zurückgewiesen werden. Wir haben Gelehrte von Weltruf hervorgebracht.“ Beifall! Nur dieses eine Mal wurde an diesem zähen Nachmittag geklatscht.

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