Milch wird im Käse unsterblich

■ »Hau du bloß ab« — ein neuer Schwank der Exiltheatergruppe »Schwaben Offensive«

Sie sind überall in dieser Stadt. Sie haben West-Berlin durchsetzt in einem Maße, daß Hobbykriminalisten seit langem von einer »Mafia« reden. Und neulich, bei der Randale am Alexanderplatz, hat der 'Tagesspiegel‘ doch wirklich ganz vorn Leute aus der Hamburger Hafenstraße ausgemacht und — ja, richtig! — »Schwaben«.

Schwer ist es nicht, sie zu identifizieren. Zwar sehen sie aus wie ganz normale Menschen, nur wenn einer den Mund aufmacht... »Barrikada baua«, »Schdoiner, mir brauchad mehr Schdoiner«, »baß auf, daß d' net nahhaglesch« — die süddeutschen Straßenkämpfer sind unüberhörbar. Darunter leiden sie. Nicht etwa, weil in einem Prozeß ihr Dialekt zum Fallstrick werden könnte: Berliner Polizisten vermögen sowenig wie andere Nachfahren der Hugenotten die Mundarten von Badensern, Schwaben oder Bayern zu unterscheiden. Es ist nur so, daß die Flüchtlinge von Alb und Neckar ungern an ihre Wurzeln erinnert werden.

Sind sie nicht extra mit ihrem Bündel »uff Berlin« getrampt, um den ganzen Mief aus Bausparkasse, Lebensversicherung und früher Heirat hinter sich zu lassen? Nichts mehr zu tun haben wollen sie mit »dem ganza Soich« dort unten, weshalb es die meisten anfangs mit dem sprachlichen Tarnkäppchen versuchen: Ob beim Autonomenplenum oder beim Schnorren am Görlitzer Bahnhof, nach jedem dritten Wort streuen die Neuberliner verzweifelt »wa« oder »icke« in ihre Rede, hübsch zu belauschende Versuche der Assimilierung.

Erst nach längerem, mehrjährigem Aufenthalt stellt sich Gelassenheit ein. Geduldig wird Auskunft gegeben über den Heimatort (»nein, nicht Stuttgart...«), werden Care- Pakete mit Maultaschen und Leberwurst nicht mehr schamhaft abgewiesen, sondern Freunde zum gemeinsamen Verzehr geladen, begleitet von einem Trollinger mit Lemberger. Und wohlig-satt streichen sich danach alle übers Bäuchlein.

Genau das ist sie, die Zielgruppe der »Schwaben Offensive«: Schwaben nach dem Coming-out, solche also, die über die »liebevoll bösartige Karikatur des schwäbischen Nationalcharakters« (Programm) schon wieder herzhaft lachen können, und, nicht zu vergessen, all die Geliebten, Mitbewohner und Arbeitskollegen, denen Seele, Gebräuche und Sprachverhalten der Südländer nach wie vor manches Rätsel aufwirft.

Gleich das erste Werk der Theatergruppe wurde zum Renner. Bald 200 Mal gespielt, wurde inzwischen Komm du bloß hoim, eine Sammlung von einzelnen Szenen und Sketchen, zusammengehalten vom Verkehrsbericht des Süddeutschen Rundfunks (»...zwischen Böblingen und Zuffenhausen zähfließender Verkehr...«). Da geht etwa der Eigenheimbesitzer, um sich zu erhängen, in die Garage des ungeliebten Nachbarn und schraubt dort den Haken in die Decke: eine letzte Strafaktion — soll der Arsch doch das Loch zugipsen. So sind sie halt, und Albrecht Metzger (Autor und Schauspieler), den viele noch als etwas ungelenken Moderator langer Rockpalast-Nächte aus dem Fernsehen kennen werden, sagt auch, die Ideen seien »auf dem Humus der Kindheit gewachsen. Wir mußten nur pflücken.«

Das neue Stück hat eine durchgängige Handlung: die Sinnkrise des Unternehmerpaares Nuding aus Neu-Hälingen (Hochdeutsch: Neu- Hinterrücks) im Remstal. Daimler- Benz kassiert eiskalt die abgelaufene Lizenz für ein Relais des Erfinders Otto Nuding, der fährt mit Frau Hilde nach Berlin, landet in der Wohngemeinschaft des Sohnes, welcher mit Raubdisketten einen schwunghaften Handel treibt, gleichwohl die monatlichen Schecks von zu Hause einstreicht, was die Eltern empört angesichts eines Kontoauszugs von 128.000 DM. Das Schlimmste jedoch: Er hat das Vermögen »auf dem Girokonto« — dort, wo's nichts bringt. Für einen schwäbischen Schaffer unbegreiflich.

Hau du bloß ab ist ein Schwank, eine hintersinnige Boulevardkomödie. Die ganze Schrulligkeit, das oft Einsilbige, das unverbindlich Nette, die ganze Unfähigkeit zur Kommunikation schwäbischer »Bruddler« (nur ungefähr: Nörgler) darf sich auf der Bühne austoben. »Der Schwabe«, glaubt Metzger, »hat ja nicht nur Dialekt, sondern Dialektik.« Er ist der lebendige Widerspruch, und damit lebt er auch. Da sagt der Sohn der Nudings, als er eine Mitschülerin nach Jahren wieder trifft: »Ich hätt' dich kaum wiedererkannt, du hasch dich ja fast gar net verändert.« Und wie eigentümlich sich Schwaben unterhalten, hat Metzger beim Schreiben gemerkt: »Man braucht gar keine Dialoge konstruieren, du läßt einfach zwei Monologe nebeneinanderherlaufen.«

Furioser Höhepunkt ist der Besuch des Tüftlers Otto bei einem Erfinder, der im Haus des Sohnes in der Graefestraße wohnt und dessen völlige Freiheit darin besteht, lauter unbrauchbares Zeugs zu entwickeln: eine »Sindelfinger Masochistenkanne«, den »Bügelwagen« u.v.a.m. Die beiden verstehen sich glänzend. »Aus der Bahn, aus der Bahn, meine Katz hat Schlittschuh ahn«, schreit der eine, und es kommt zurück: »Liegt Schnee auf'm G'länder, isch Wender [Winter].« Bisweilen erlangt solches Sinnieren geradezu jenen philosophischen Tiefgang, der aus den »Viertelesgläsern« steigt: »Im Käse wird die Milch unsterblich.«

Die vier Schauspieler (zu Metzger, Susanne Scholl und Jakob Wurster ist als einziger Nichtschwabe Jörg Hohgräve gestoßen) zeigten sich bereits zur Premiere vergangenes Wochenende in beängstigender Frühform. Gekonnt schlüpfen sie in verschiedene Rollen und Kleider, behend werden die vielen Umbauten erledigt, dazu tönt getragen ein Chor wie in der Hausfrauensendung Sie wünschen — wir spielen (SDR). Natürlich wird Mundart geredet, doch das sollte nicht schrecken: Zu Testzwecken mitgeführte Personen (Oberpfalz/Ruhrgebiet) amüsierten sich durchaus, und wer als Schwabe schon vor Urzeiten das Sprachgebiet verlassen hat, wird auf herrliche Kleinode wie »Käpsele« (Genie) oder »Gebbl« (Fahrrad) stoßen, die das Großhirn nur noch schwach memoriert.

So dient das Theater auch dem neuen Aufbau von Identität: Schwaben in Berlin — die Zeiten stehen schlecht. Gut behütet lebten sie fern der Heimat durch den antifaschistischen Schutzwall, eine starke Minderheit (Schätzungen gehen von 100.000 bis 150.000). Doch jetzt, im neuen Großraum, mit der Aussicht, vom Kommiß erfaßt, gemustert und eingezogen zu werden? War nicht das so sympathisch an Berlin: daß die Leute ihren Zaster auf den Kopf hauen, weil es auf dieser Insel keine Doppelhaushälfte gab, auf die zu sparen sich lohnte? Und jetzt drohen die Bonner Beamten mit ihrer Invasion, und die ersten aus der alternativen Szene strecken gierig die Finger nach den Datschen am Müggelsee.

Das trifft ins Mark, aber zurück nach Waiblingen oder Ohmenhausen, das geht doch auch nicht. Trotzig ruft der junge Nuding auf Schwäbisch: »Ich bin kein Schwabe mehr, ich bin Kosmopolit.« Also wird hiergeblieben, denn selbst das neue Berlin ist »immer no besser wia a Gosch voll Reißnägel«. Herr Thömmes

(Exilant seit 20 Jahren)

Hau du bloß ab bis Sonntag jeweils um 20 Uhr im Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Straße 141, Berlin 44. Eintritt 16 bzw. ermäßigt bloß 13 DM.