: Fiskus in der Kaserne
■ Im ehemaligen NVA-Musterungsbüro werden im Stadtbezirk Mitte Lohnsteuerkarten bearbeitet/ 700.000 bis 800.000 werden bis zum Jahresende ausgegeben
Mitte. »Musterungsstützpunkt« steht noch auf dem Briefkasten der Köpenicker Straße 43. Doch in der Baracke werden keine Wehrpflichtigen mehr auf ihre NVA-Tauglichkeit getestet, sondern Arbeitnehmer in Lohnsteuerklassen eingruppiert. Alle Lohn- und Gehaltsempfänger, die im Stadtbezirk wohnen, müssen bis Ende des Jahres mit ihren Lohnsteuerkarten bei dem düsteren Hinterhofstützpunkt vorbeischauen. Dort werden dann Religionszugehörigkeit, Kinder- oder Schwerbehinderten-Pauschalbeträge und die Steuerklasse eingetragen. Ab 1. Januar 1991 schlägt dann der Fiskus genauso wie im Westen zu.
700.000 bis 800.000 Lohnsteuerkarten müssen dazu alleine in Berlin verteilt werden. »70 Prozent der Leute, die hierherkommen, sind relativ gut informiert«, stellt der stellvertretende Leiter der Kartenstelle, Hans Sauerbrey, zufrieden fest. Die Wartezeiten seien noch kurz, erzählt Sauerbrey, und man solle jetzt kommen. »Sonst haben wir zum Jahresende die Schlangen«, warnt er. Die meisten, die sich vor dem Beratungsbüro eine Wartenumer ziehen, haben sich bei Arbeitskollegen oder Verwandten informiert, welche Eintragungen für sie am günstigsten sind. Das offizielle Informationsheftchen »Lohnsteuer 1991« bezeichnet ein 40jähriger Rohrleitungsleger der Gaswerke als »zu umständlich«. Sein Fall — verheiratet und zwei Kinder — habe er bei den Beispielen gar nicht gefunden. Er und seine Frau landen schließlich beide in der Klasse IV. Beim Verlassen des Büros dreht der Mann unsicher die grüne Karte um. »Was da nun alles auf der Rückseite steht«, sagt er beim Anblick der 26 engen Zeilen, in denen unter anderem die Abzüge, Sparzulagen und Sozialversicherungsbeiträge vermerkt werden, »das dürfen Sie mich nicht fragen. Das sind noch alles böhmische Dörfer.« Seine Frau nickt zustimmend. »Es könnte ja mal was im Fernsehen dazu geben.«
Die Gutinformierten haben hingegen schon ausgerechnet, ob sie bei dem neuen System besser wegkommen oder nicht. »Nimmt sich nicht viel«, konstatiert eine 35jährige Verwaltungsangestellte, die schon einschlägige »dicke Wälzer« studiert hat. Rund 300 Mark Abzüge bei einem Einkommen von 1.400 Mark habe sie auch vorher gehabt. »Arbeiter stehen sich schlechter«, weiß sie. Eine Dekorateurin vom Kaufhaus Centrum hat indes Einbußen festgestellt. Der Frau mit zwei Kindern bleiben rund 1.000 Mark zum Leben, trotz einer Lohnerhöhung von 200 Mark. Eine 46jährige Leiterin eines Gastronomiebetriebs berichtet, daß die neue Kirchensteuer zunächst große Unruhe unter ihren Kollegen ausgelöst habe. Einige seien noch ausgetreten. Die Frau will den Glaubensbeitrag zahlen. »Das gehört doch wohl dazu — ob bei der Gewerkschaft oder der Kirche.«
Vereinzelt hört man bei den Wartenden Murren, daß sie als Ostberliner nicht in den Genuß der Berlinzulage kommen. Aber das mache bei den ohnehin viel niedrigeren Löhnen nun auch nichts mehr aus, sagt einer beschwichtigend. »Der Hammer kommt sowieso erst Ende 1991, wenn wir die Lohnsteuerkarte zurückkriegen und dann einen Jahresausgleich machen müssen«, sagt ein Lehrer beim Verlassen des Hofes, auf dem noch ein olivgrüner Militär- LKW parkt. Christian Böhmer
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