■ ZEITSCHRIFTEN GELESEN VON
: Werner Pieper

Wohl dem Süchtigen, der seine Sucht zum Wohle aller zu nutzen vermag. Nicht, daß ich mit meiner Zeitschriftensucht protzen möchte, kostet sie doch viel Zeit, Geld und Hirnzellen, aber ich bin in der glücklichen Lage, beim Studium derselben nicht nur für mich Informationen zu horten, sondern auch weiterzugeben.

So lese ich etliche Zeitschriften für andere Leute mit, sammle die darin enthaltenen Infos und bündle sie themenspezifisch. Ein Häufchen für die Computer-Hacker, ein Häufchen für den Delphinfreund, eines für die Hirnforscher und BrainTecher und ab und zu ein Rundumschlag wie diesen für taz-LeserInnen.

Ich fange mit Fachzeitschriften an. Die 'Fortean Times, The Journal of Strange Phenomena‘, bietet seit 17 Jahren viermal jährlich eine Sammlung meist unkommentierter Vorfälle aus aller Welt, die aufgrund unseres aufgeklärten Wissens eigentlich unmöglich sind. Benannt ist das Blatt nach Charles Fort, (1875 bis 1932), der sein Leben ganz den unerklärlichen Phänomenen dieser Welt widmete. In dieser Saison stürzt sich die allgemeine Presse auf Crop-Circles, jene Kornkreise, die zuerst in England, inzwischen aber auch anderswo (zum Beispiel in der UdSSR und Japan) gesichtet wurden. 'Fortean Times‘ berichtet von Ufos, Dingen, die Leben anzunehmen scheinen, vom Himmel fallenden Fischen, Kommunikation mit Toten, abartigem Verhalten von Tier und Materie etc. Ein Lesevergnügen für Leute, die sich gerne wundern.

Ein Phänomen der anderen Art ist die Musikgruppe „The Grateful Dead“, die seit Mitte der 60er Jahre eine — immer noch anwachsende — Kultgemeinde vorzuweisen hat. Lieferten sie vor 25 Jahren den Soundtrack zu großen LSD-Parties, so sind sie derzeit aus verschiedene US-Musikarenen verbannt worden, da ihre Fans, die Dead-Heads, zu viel Lebensfreude an den Tag legen und jedes Konzert zu einem großen Familienfest ausarten lassen. Dieser Tage kommen die Dead auch nach Deutschland. Und da möchte ich nicht versäumen, auf die Fachzeitschrift für Dead-Heads, 'Relix‘, hinzuweisen: Interviews und LP-Besprechungen aus dem Umfeld der „Dead“ und von anderen Westcoast- Gruppen. Interessant in der aktuellen Ausgabe die Diskussion über private Live-Konzertmitschnitte. Die „Dead“ haben schon vor vielen Jahren bei ihren Konzerten bestimmte Ecken für Leute mit Aufnahmegeräten freigehalten. Die Musiker fördern das ansonsten „illegale“ Mitschneiden von Konzerten. In 'Relix‘ finden sich viele Kleinanzeigen von Jungs & Mädels, die ihre „Dead“- Tapes zum Tausch anbieten. Concert taping means loving music.

'Raise the Stakes, The Planet Drum Review‘ kommt ebenfalls aus den USA. Die neueste Ausgabe hat allerdings Europa als Thema, ein Europa, daß den meisten von uns noch unbekannt ist. Die Planet Drum Foundation entwickelt, diskutiert und propagiert seit 1973 die Idee des Bioregionalismus. Man geht davon aus, daß die Mittelgebirgler des Planeten Erde mehr Gemeinsamkeiten haben, als Mitglieder heutiger Nationalstaaten. Der Fischer und in China hat mehr gemeinsam mit dem Fischer in Norwegen als mit dem Beamten in Peking und so weiter. Thomas Kaiser und Freunde haben nun den Bioregionalismus Europas zum Hauptthema der aktuellen Ausgabe gemacht. Da geht es mehr um Wiedererinnerung als Wiedervereinigung, mehr um die Förderung der Regionen als die Vereinten Nationen von Europa. Sehr anregend, wenn auch kaum mit dem politischen Teil der taz kompatibel. Was für Menschen, die mit psychedelischen Drogen experimentieren, fehlt, sind oft gute Informationen, quasi Bergführer für die Gipfelstürmer des Geistes. Aus den USA kommt 'Psychedelic Monographs an Essays‘. Auf 250 Seiten bietet 'PM&E‘ eine erhellende Bandbreite von Informationen aus allen psychedelischen Forschungsbereichen: Soziologie, Cybernetic, Pharmakologie, Literatur und so weiter. Themen der Nr.4 sind zum Beispiel Aufklärung über den Castaneda-Schwindel (hat dieser seine „Erlebnisse“ doch glatt aus ethnologischen Werken abgeschrieben, auch aus Artauds Memoiren), über die neue Substanz U4Euh, über den Disput Leary-Wasson etc. Wichtig auch die Aufklärung über Anti-MDMA-Kampagne: So hatte es auch in Deutschland wiederholt in Zeitungen gestanden, daß MDMA stark toxisch sei. Da hatte jemand mehrfach täglich Ratten über einen Zeitraum von vier Tagen MDMA gefixt und daraufhin Veränderungen im Gehirn derselben festgestellt. Bei solchen Versuchen ist fast jede Substanz körperschädlich. Weitere Versuche mit oral eingenommenen MDMA zeigten, daß es zwar temporär zu einer Beeinträchtigung von Nervenzellen kommen kann, diese sich aber wieder regenerieren und nicht absterben, so wie es publiziert wurde. Auch Untersuchungen bei Menschen ergaben keinerlei Hinweise auf bleibende Schäden.

'PM&E‘ berichtet auch, daß solche Anti-Drogen Meldungen typisch für weite Teile der Presse sind. So war zum Beispiel im 'New Scientist‘ zu lesen, daß ein Forscher davon ausgeht, daß MDMA für das Gehirn schädlich sei. Zwar sei es ihm trotz intensiver Bemühungen noch nicht gelungen herauszufinden, was nun wirklich schädlich sei, aber er arbeite noch daran. Aber das war auch in den 60ern schon so, als man überall lesen konnte, daß Jugendliche ihr Augenlicht verloren, da sie unter LSD-Einfluß zu lange in die Sonne gechaut hätten. Weltweit wurde dies publiziert aber als der US-Offizielle, der diese Meldung verbreitet hatte, zugab, daß er sie erfunden hatte, war dies keine Pressemeldung mehr wert.

Das Fachblatt für Gipfelstürmer der zeitgemäßen Art ist ohne jeglichen Zweifel 'Mondo 2000‘. Für all jene, denen eine Realität nicht gut genug ist, öffnet 'Mondo 2000‘ ungeahnte neue Möglichkeiten: Neue psychoaktive Substanzen werden propagiert (inzwischen auch in Deutschland erhältlich), die nicht das Betäubungsmittelgesetz tangieren, Mind- Machines, Cyber-Space, virtuelle Realitäten — all diese Schlagworte werden hier mit visionären Artikeln verständlich gemacht. Zu den Autoren gehören Tim Othy Leary, R.A. Wilson, John Barlow, Jaron Lanier, R.U. Sirius & Queen Mu. In der aktuellen Ausgabe erzählt zum Beispiel Wes Thomas, wie er einen weltweiten Medienvirus erschafft hat: Die allgemeine Paranoia vor Computerviren ist so groß, daß es reichte, ein Gerücht in die Welt zu setzen, um Tausenden von Computern zu Zwangspausen zu verhelfen. Es handelt sich um die Geschichte des berühmten „Freitag, der 13. Virus“. Selbst in der taz war zu lesen, daß dieser Virus jeweils an einem Freitag den 13. aktiv wird und Computer sowie Programme zerstört. Daraufhin haben große Firmen, man munkelt gar auch der Pentagon, ihre Computer an jedem Freitag den 13. abgeschottet. Millionen von Computerusern gerieten in Panik, die Weltpresse heizte die Paranoia an und — nichts geschah. Es konnte auch nichts geschehen, da es diesen Virus nicht gab. In 'Mondo 2000‘ findet man die Hintergründe zu diesem Coup. Till Eulenspiegel läßt grüßen. Was hier an Informationen über hier und heute und vor allem morgen dargeboten wird, kann in vielen deutschen Magazinen noch als Science Fiction verkauft werden. Das Fachblatt für Zeitreisen.

Nicht ganz so zukunftsschwanger, dafür aber absolut im „here now“ ist seit fast zwanzig Jahren das 'Whole Earth Review‘. Die Herbstausgabe '90 beschäftigt sich unter anderem mit dem Erdbeben in San Francisco beziehungsweise damit, was man aus solch einem Desaster lernen kann. Zwar waren die Architekten der Stadt auf solch ein Beben vorbereitet, viele Häuser entsprechend erbaut, aber es gab und gibt keine Ausbildung für Menschen, wie sie sich in solchen Situationen zu verhalten haben. Fachleute versagten und Freiwillige übernahmen die Rettungsaktionen. Hier wird versucht zu vermitteln, was diese Volunteers in jener Nacht lernten. Die Medien berichteten über das Drama, 'WER‘ publiziert Lehrpläne. Gerade wurde das Magazin mit einer Auszeichnung geehrt, es ist das Periodikum mit „The Best Coverage of Cutting Edge Issues“. Zweites Hauptthema neben dem Erdbeben und seinen Lehren ist „Earth Radio“, unter anderem mit einem Bericht über „Pirate TV in Eastern Europe“, wobei auch Kanal X aus Leipzig gewürdigt wird. Bevor es technisch wird, erfährt der Leser hier, daß es täglich zirka 44.000 Gewitterstürme auf der Erde gibt, in denen etwa acht Millionen Blitze zu je 250 Millionen Volt in einer Spannung von 200.000 Ampere zucken. Das 'WER‘ hat auch, neben dem Klassiker „Whole Earth Catalog“, eine neue umfangreiche Buchpublikation vom Stapel gelassen, den „Whole Earth Ecolog“. Groß und umfangreich bietet er Hunderte von Lösungsansätzen (mit Infoquellen, Anschriften etc.) zu allen ökologischen Problemen. Visionär, aber dabei praxisbezogen — wie das Magazin eine permanente Anregung.

Extrem aufregend ist der neue 'Amok Dispatch‘. Auf 350 großformatigen Seiten werden hier 3.500 Bücher vorgestellt, die eines gemeinsam haben: Sie enthalten extreme Informationen. Es handelt sich dabei weniger um einen Bestellkatalog als vielmehr eine Übersicht, was es für Bücher in den USA gibt, die man kaum im Buchhandel findet — und bei uns allemal nicht. Manche taz-Leser mögen sich noch an den Loompanics Catalog erinnern, der uns schon recht extrem erschien. Aber der 'Amok Dispatch Nr.4‘ stellt alles Dagewesene in den Schatten. Zu den Hauptthemen gehören zum Beispiel Exotica, Neuropolitics, Orgone, Sensory Deprivation, Sleaze und anderes mehr. Manchen wird beim einfachen Durchblättern auf Grund der Illustrationen schon schlecht, andere, wie zum Beispiel J.G. Ballard, Tim Leary, Mark Pauline und John Waters („a reading list from hell, that is a must for any serious oddball bibliophile“) gehören zu den Stammkunden und Lobpreisern dieses Werkes, das zwischenzeitlich auch im 'Rolling Stone‘, 'Newsweek‘ und anderswo entsprechend gewürdigt wurde. (Die weltweit erste 'Amok‘-Rezension war vor Jahren in der taz zu lesen). Worum es eigentlich geht? Nun, da werden medizinische Fachbücher über Autopsie neben CIA-Schriften über Anleitung zur Folter gestellt, da finden sich Biografien von Pornostars und Massenmördern, Satanisten und Ufo-Logen finden ihre Fachwerke, ebenso wie Verschwörungstheoretiker, Situationalisten und Nudisten. Zum großen Teil Bücher, die auch auf der Frankfurter Buchmesse nicht angeboten wurden und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf Jahre beschäftigen würde. Einfach unvorstellbar.

'Amok‘, Fourth Dispatch, Sourcebook of the Extremes of Information in Print erscheint unregelmäßig, Bezug 18 DM inklusive Porto: Medienexperimente, Alte Schmiede, D-6941 Löhrbach

'Fortean Times‘, The Journal of Strange Phenomena erscheint unregelmäßig, 4 Ausgaben: 9 Pound Streling c/o Fortean Times, 20 Paul Street, frome, Somerset BA11 1D, England

'Mondo 2000‘, (vormals 'Reality Hackers‘) 24 US-Dollar für 6 Ausgaben (Zahlung per Credit Card möglich): Mondo 2000, PO Box 10171, Berkeley CA 94709-5171, USA

'Psychedelic Monographs and Essays, erscheint jährlich, 20 US-Dollar (inklusive Luftpostporto) PM&E Publishing, PO Box 740, Boca Raton, Florida 33429, USA

'Raise The Stakes‘, zweimal jährlich, pro Ausgabe 4 US-Dollar: c/o Planet Drum, PO BOX 31251, San Francisco, Shasta Bioregion, CA 94131, USA

'Relix‘

'Whole Earth Review‘, viermal jährlich, 24 Dollar/Abo, inklusive Porto: WER, PO Bo 38, Sausalito, CA 94966-9924, USA