Ab in den Müllcontainer

■ An die fliegenden Standgerichte in den letzten Tagen des Krieges will sich kaum jemand erinnern

Nicht erst die Diskussion um die Lenin- und Thälmann- Denkmäler gibt zu denken. Das stillschweigende Entfernen von Gedenktafeln, die an Deserteure und Kriegsdienstverweigerer erinnern, hat lange Tradition. Ost- und West-Berlin eint, daß einer Diskussion bisher aus dem Weg gegangen wurde.

Von Norbert Haase

So ist, von wenigen bemerkt, in den ersten Tagen des wiedervereinigten Berlin der Stadt ein Stück kollektiver Erinnerung abhanden gekommen, das ungerechtfertigterweise mit dem Sturm auf die stalinistischen Monumente hinweggefegt wurde. Die Rede ist von einer an sich unscheinbaren Metalltafel an der Unterführung des S-Bahnhofs Friedrichstraße unmittelbar neben der Heinrich-Heine-Buchhandlung. Ihr Text: »Kurz vor Beendigung des verbrecherischen Hitlerkrieges wurden hier zwei junge deutsche Soldaten von entmenschten SS-Banditen erhängt.«

Gewiß war diese Erinnerungstafel in der Diktion ihrer Inschrift auch ein stalinistisches Relikt, das früher oder später in die ideologische »Altlastensanierung« hätte miteinbezogen werden müssen. Nun ziert sie als Trophäe allerdings die Wohnstube eines eifrigen Sammlers — eine abscheuliche Vorstellung.

Indes hat die geschichtslose Bilder- bzw. Tafelstürmerei im Zusammenhang mit diesen Opfern des Krieges und der NS-Herrschaft in Berlin Tradition. Man erinnere sich an einen Vorgang aus dem Jahr 1989 am Gebäude des Berliner Kammergerichts am Witzlebenplatz. Im Rahmen des Evangelischen Kirchentages hatten Kriegsdienstgegner im Beisein der Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Hilde Schramm, und der Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg, Monika Wissel, am 8. Juni 1989 dort eine provisorische Gedenktafel angebracht. Ein Dringlichkeitsantrag der Fraktion der AL war zuvor von der Bezirksverordnetenversammlung einstimmig angenommen worden, daß in unmittelbarer Nähe zum Haupteingangsportal an einer von der Straße aus leicht einsehbaren Stelle eine Gedenktafel angebracht werden sollte. Sie sollte erinnern an die Kriegsdienstverweigerer und Widerstandskämpfer, die vom dort vormals residierenden Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren.

Tags darauf wurde die Erinnerungstafel auf Veranlassung des Kammerrichters Egbert Weiß von Bauarbeitern zerkleinert und auf einen Müllcontainer geworfen. Kammergerichtspräsident Dehnicke blieb gegen Weiß untätig. Zwar beantragte die Senatsverwaltung für Justiz im Juni 1989 ein Disziplinarverfahren gegen Weiß, ein Ermittlungsverfahren aufgrund einer Strafanzeige wegen Sachbeschädigung seitens des »Büros für ungewöhnliche Maßnahmen« wurde von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht eingeleitet. Der Dienstgerichtshof beim Kammergericht beschloß dann im Oktober 1989, daß im Fall Weiß die Voraussetzungen für die Eröffnung eines förmlichen Disziplinarverfahrens nicht vorlägen.

Am 1. September 1989 um 5 Uhr 45 war es schließlich soweit, daß statt eines Provisoriums eine Metalltafel auf dem Bürgersteig vor dem Gerichtsgebäude installiert wurde. Diese rostet inzwischen vor sich hin, so daß man bald die haarsträubende Orthographie ihres Textes nicht mehr wird lesen können.

Aber die Tradition reicht noch weiter zurück:

—Im Zuge von Autobahnbauarbeiten in der Weddinger Seestraße wurde 1978 die Grabstätte samt dazugehörigem Grabstein des vermutlich einzigen protestantischen Kriegsdienstverweigerers der NS- Zeit stillschweigend eingeebnet. Der Theologe und Staatsrechtler Dr. Hermann Stöhr (1898-1940), der im Juni 1940 in Plötzensee ermordet wurde, war eines der Opfer des Reichskriegsgerichts.

—In Steglitz wurde eine Tafel, die an einen im April 1945 erhängten Soldaten erinnerte, in der Nachkriegszeit mehrfach zerstört und wieder ersetzt, bis sie im Zuge der Bauarbeiten für das Skandalhochhaus »Steglitzer Kreisel« ganz verschwand. Hingegen wurde die Steinplatte im Kreuzungsbereich Haupt-/ Dominicusstraße, die als eines der letzten Zeugnisse des Vernichtungswahns gegen die eigene Bevölkerung, angeführt durch fliegende Standgerichte, bestehen blieb, nur vorübergehend entfernt. Nach Bekunden der bezirklichen Bauverwaltung soll sie bei Fertigstellung der Bauarbeiten wieder dort eingelassen werden.

Der entmilitarisierte Status der Stadt hat in über 40 Jahren dazu geführt, daß sich die BerlinerInnen kaum mit der militärischen Geschichte Berlins auseinandergesetzt haben. An sinnfälligen Orten des Schreckens wie den damaligen Hinrichtungsstätten in Jungfernheide und in Ruhleben fehlt jeglicher Hinweis auf die unselige Vergangenheit. Stand im Osten das neoborussianische Säbel- und Kettenrasseln bei den Paraden in der Karl-Marx-Allee in diametralem Gegensatz zu den antimilitärischen und pazifistischen Traditionen der Arbeiterbewegung, so brauchte man sich in Berlin West, der einstigen Hochburg von Kriegsdienstflüchtlingen, über die Fragen militärischer oder auch antimilitärischer Traditionsbildung nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Während in kaum einer Stadt der ehemaligen Bundesrepublik den Stadtoberen und örtlichen Militärstandorten eine Diskussion über ein »Denkmal für Deserteure« erspart blieb, hüllte man sich im entmilitarisierten Berlin, das hierbei ungleich mehr eigene Ortsgeschichte aufzuarbeiten hätte, in Schweigen. Der von dem türkischen, in Berlin lebenden Bildhauer Mehmet Aksoy in Marmor gehauene Bonner Unbekannte Deserteur kam nur bis vor die Tore der Stadt und sorgt nun in Potsdam für politischen Zündstoff.

Möglicherweise hat das spurlose Verschwinden der sinnfälligen Erinnerung an ein ohnehin tabuisiertes Stück Zeitgeschichte in der S-Bahn- Station Friedrichstraße am Ende doch noch einen Sinn: nämlich den, daß in dieser Stadt eine längst fällige Diskussion nachgeholt wird über eine große Gruppe vergessener Opfer, die vielen jungen deutschen Soldaten, die als Deserteure dem Morden der letzten Tage zum Opfer fielen. Es wäre ohnehin an der Zeit, angesichts einer Flut martialischer Kriegerdenkmäler aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg über einen anderen Totenkult in bezug auf die Kriegstoten nachzudenken — ganz im Sinne des Berliners Kurt Tucholsky. Er hatte 1925 schon die Auffassung vertreten, uns fehlten andere Tafeln:

»Uns fehlt diese eine:

Hier lebte ein Mann,

der sich geweigert hat,

auf seine Mitmenschen zu schießen.

Ehre seinem Andenken!«

Norbert Haase ist Historiker und Mitarbeiter an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. 1987 erschien im Rotbuch-Verlag sein Buch »Deutsche Deserteure«.

Eine neue Gedenktafel für die beiden von der SS ermordeten Soldaten bringt heute um 11 Uhr das Aktive Museum Faschismus und Widerstand e.V. mit Unterstützung der Alternativen Liste unter der S-Bahn-Brücke Friedrichstraße an.