piwik no script img

Gorbatschows Kompromiß gebilligt

■ Für Jelzin und seine Gruppe ist das Programm zu vage ausgefallen/ In seiner Rede nennt Gorbatschow die Finanzlage als das größte Problem / Interregionale Gruppe spricht sich für Plan aus

Moskau (afp/dpa) — Mit überwältigender Mehrheit hat das sowjetische Parlament am Freitag das von Staatspräsident Michail Gorbatschow vorgelegte wirtschaftliche Reformprogramm in seiner endgültigen Form gebilligt. Wie ein Sprecher des Obersten Sowjets auf Anfrage bestätigte, stimmten 333 Abgeordnete für das Konzept und zwölf dagegen. 34 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Von den radikaleren Reformern wird das ungefähr 60 Seiten umfassende Dokument allerdings als zu vage kritisiert.

Gorbatschow erklärte in seiner 45minütigen Rede vor den Abgeordneten, seine „Leitlinien für eine Stablisierung der Wirtschaft und einen Übergang zur Marktwirtschaft“ (so der Titel des von von ihm verfaßten Dokuments), ließen jeder Republik den Spielraum, „mit Hilfe des Zentrums zu handeln.“ Gorbatschow betonte aber, bestimmte Bereiche müßten auch weiterhin zentral geregelt werden, darunter vor allem das Finanzwesen und die Geldwirtschaft. Gorbatschow gab zu, daß sich die Finanzlage der Sowjetunion seit dem Frühling ernsthaft verschlechtert habe. Nach Einschätzung des Präsidenten ist es „der größte Fehler der Perestroika, die Kontrolle über die Finanzsituation des Landes verloren zu haben“. Insbesondere sei zu viel Geld in Umlauf gebracht worden. Weiter sprach sich der Präsident für die Einführung „vielfältiger Formen“ des Eigentums aus. Er betonte aber, daß die Sowjetunion sich damit nicht vom Sozialismus abkehre. Auch wenn kollektive Eigentumsformen wahrscheinlich überwiegen würden, sei gegen das Privateigentum dort, wo es zu einem besseren Ergebnis führe, nichts einzuwenden. Zu der „delikaten Frage“ einer Agrarreform, also der Privatisierung des Bodens, sagte Gorbatschow unter Anspielung auf ein mögliches Referendum, das „letzte Wort“ gehöre dem Volk. Ein Datum für eine eventuelle Volksabstimmung nannte er jedoch nicht.

„Radikal“ muß sich nach Ansicht des Präsidenten das Verhältnis der Bevölkerung zur Arbeit ändern. Die Menschen müßten „die Gewohnheit verlieren, den Staat als eine große Wohlfahrtsorganisation“ anzusehen. Seine „Leitlinien“ sollen für eine „Übergangsperiode“ von eineinhalb bis maximal zwei Jahren gelten. Dem russischen Präsidenten Boris Jelzin warf Gorbatschow vor, auf „Konfrontation“ aus zu sein und nicht wirklich über die Fragen der Wirtschaft zu beraten.

Sein Plan stelle eine „Synthese“ aus dem von Jelzin unterstüzten 500-Tage-Programm und dem von Ministerpräsident Nikolai Ryschkow vorgelegten, gemäßigtem Wirtschaftsplan dar. Im September hatte keines der beiden Programme eine Mehrheit im Obersten Sowjet der UdSSR gefunden.

In einer ersten Reaktion erklärte Ryschkow, der Plan Gorbatschows vereinige die besten Elemente der zuvor gemachten Vorschläge. Der Bürgermeister von Leningrad, Anatoli Sobtschak, bezeichnete dagegen den Text Gorbatschows als „illusorisches Dokument“. Er forderte, die „Strukturen der Machtorgane“ in der Sowjetunion zu ändern. Der russische Präsident Jelzin bezeichnete den Plan als „Skizze“ eines Programms. Die Radikalreformer der Interregionalgruppe (!) erklärten unterdessen ihre Zustimmung zu dem Dokument des Präsidenten. Bedingung sei allerdings, daß gesonderte Programme auf der Ebene der Republiken verabschiedet würden und daß ein „unabdingbarer Strukturwandel aller staatlichen Organisationen“ stattfinde.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen