: Volles Haus und volle Hosen
SG Wattenscheid — Borussia Dortmund 1:1/ Der kecke Emporkömmling sorgte für einen historischen Tag in Bochum: Das Ruhrstadion war beim Revierderby zum ersten Mal ausverkauft ■ Von Ernst Thoman
Bochum (taz) — Ralf Eilenberger ist Torhüter, und als letzter Mann der wundersamen Wattenscheider noch mehr. „Eile“, dessen Nachname für schieren Anachronismus steht, ist vor allem eines: ein stoppelbärtiger Stoiker, die Ruhe an und für sich auf der Kreidelinie und auf dem heimischen Sofa.
Noch Amateurtorwart, verschlief er vor Jahren eine Berufung in die Westfalenauswahl. Und im letzten Dezember, als nach dem letzten Spiel vor der Winterpause seine Sportkameraden längst auf gepackten Ferienkoffern saßen, fragte Torwart Eilenberger zu mitternächtlicher Zeit beim letzten Bier die letzten Gäste im rustikalen Vereinsheim: „Weiß hier eigentlich einer, wie lange wir Urlaub haben?“ Dieser „Eile“, so sagen viele Fans, sei eher „Valium“ zu nennen.
Umso gewichtiger deshalb stand am Freitag abend ein Satz des Keepers im Wattenscheider Kabinenraum. „Einige von uns hatten heute die Hosen voll“, befand die Nummer eins des Aufsteigers. Ein Urteil, das sich der (fast) unbeschäftigte Gemütsbär zuvor in aller Ruhe über neunzig Minuten bilden konnte. Denn seine Wattenscheider Vorderleute ließen sich von einer historischen Kulisse erdrücken. Zum ersten Mal nämlich in der Geschichte des Bochumer Ruhrstadions meldeten die Kassenhäuser ein „ausverkauft“. Das mäßige Kampfspiel gegen die Dortmunder Borussen lebte von der Stimmung der 42.500 Besucher.
Fünfzehn Jahre lang versuchte der Hausherr aus der Hauptstadt, der VfL Bochum, dieses Kunststück vorzumachen. Gleichnishaft nutzten dessen Akteure den Ausflug zum FC St. Pauli, um das „Phantom der Oper“ zu besuchen, derweil die heimische Fußballoper, angeblich eines der schönsten Stadien der Republik, von den Vorortfußballern besetzt wurde. Unglaublich! Wattenscheid (Münchens Uli Hoeneß noch vor Wochen: „Da geht doch keiner hin.“) machte die Hütte voll, wenn auch einiges in die Hose ging.
Vieles ist eben noch zu neu für die Neulinge. „Wir müssen uns an diese Kulisse gewöhnen“, urteilte Kapitän Uwe Tschiskale über das Ruhrgebietsderby. Zudem ging es um viel bis fast alles in diesem zum Prestigeduell des „Besten im Westen“ hochstilisierten Match. Wattenscheid, nach einem knappen Drittel der Saison in UEFA-Cup-Nähe, längst mehr von den Medien als von den Gegnern gejagt, konnte die unbekümmerte Frische herzhaften Fußballs der ersten Wochen nicht auspacken. Dabei spielte Dortmund, wegen der gelben Farbe auf den Leibchen auch „Löwen“ geheißen, ganz so, als hätten zehn Feldspieler die dritten Zähne zur Entsorgung mit „Kukident-Haftpulver“ in der Kabine gelassen.
Aber die „Gelben“ trafen nach einer guten, spielerisch allerdings sehr mickrigen Stunde. Als Kapitän Zorc eine vom rauhbeinigen Ex-Polizisten Schulz per Kopf verlängerte Poschner-Ecke zum 1:0 eindrückte (eine Standardsituation aus dem Lehrbuchkapitel „Vom kurzen auf den langen Pfosten“), mußte Stoiker Eilenberger zum wirklich ersten und letzten Male eingreifen. Einer wie er erledigt auch das Hinter-sich-Greifen äußerst gelassen.
Verständlich, wenn sein Trainer Hannes Bongartz hernach befand: „Ich bin froh, daß wir nicht gewonnen haben.“ Nach der Führung nämlich rastete eine halbe Hundertschaft Dortmunder betonköpfiger Borussenfans aus. Der Drahtzaun dicht hinter Torwart Eilenberger wurde flugs niedergemacht. Schließlich stand in jenem Moment fest, wer tatsächlich die Macht im Ruhrgebiet innehat. Der drohende Abbruch wurde zunächst durch Wattenscheids Hartmann verhindert, der nach einem zungenschnalzenden Sammy-Sane- Schlenzer den Ausgleich besorgte. Danach geschah, was Trainer Bongartz mit Erleichterung quittierte: kein weiteres Tor.
Das Gehäuse von Ralf Eilenberger nämlich war längst von Polizei umzingelt, von den Torpfosten bis hin zu den beiden Eckfahnen nur grüne Uniformen. Und da überkam auch den Torhüter die blanke Furcht: „Ich hatte Angst, von einem Polizeihund gebissen zu werden.“
Und während nach dem Derby mit 700.000 D-Mark brutto die höchste Einnahme in der Wattenscheider Vereinsgeschichte ausgezählt wurde, hatte man für das Nachspiel vorgesorgt. Die Bochumer Innenstadt war polizeilich verriegelt, die Buden der stadionnahen Herbstkirmes mit Ordnungsverfügung verrammelt. „Wir wünschen uns mehr solcher Lokalkämpfe“, freute sich gleichwohl Wattenscheids Mäzen Klaus Steilmann. Genugtuung über den Ausverkauf empfindend, meinte der Textilkrösus, er erwarte in der nächsten Saison auch Schalke und Duisburg in der Bundesliga. Das könnte so kommen. Aber vielleicht wird dann wirklich auch einmal ein Torhüter vom Hund gebissen.
Wattenscheid 09: Eilenberger — Neuhaus — Moser, Siewert, Sobich — Hartmann, Emmerling, Sane, Kuhn — Tschiskale, Kohr (61. Langbein)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen