piwik no script img

Ein langer, seltsamer Trip

Grateful Dead auf Europatournee  ■ Von Matti Lieske

Gebannt starrt Jerry Garcia die Hände Bob Weirs an, die emsig auf dem Gitarrenhals entlangrutschen, knappe, gehackte Riffs absondern und dem Klangtumult der beiden Schlagzeuger Bill Kreutzmann und Mickey Hart, des Bassisten Phil Lesh, des Pianisten Bruce Hornsby und des Keyboarders Vince Welnick überraschende Akzente verleihen. Scheinbar völlig losgelöst von seiner eher schwerfälligen Physiognomie huschen derweil die Finger Garcias wie entfesselte Irrwische über die Saiten seiner Gitarre und lassen glasklare, waghalsige Tonfolgen aus den monströsen Lautsprechern perlen. Langsam steigert sich die Dynamik der Musik, gewinnt an Intensität, wie auf ein geheimes Kommando ist die gesamte Band, die kurz zuvor noch gelöst und fröhlich daherspielte, bis in die Haarspitzen konzentriert und mit fast finsterer Bessenheit bei der Sache. Die Halle beginnt zu vibrieren, Jerry Garcias Gitarre schlägt immer wildere Eskapaden, wirkt aber noch wie von unsichtbaren Fesseln gebändigt. Höher und höher schraubt der vollbärtige Kalifornier die Läufe, bis sie verzweifelt nach Befreiung schreien und schließlich in einer mächtigen tonalen Explosion der gesamten Gruppe alle Ketten sprengen, um stracks in die fünfte Dimension der Rockmusik zu enteilen. Der Saal brüllt und tobt, während Bob Weir zufrieden Phil Lesh zublinzelt und Garcia milde auf die hüpfende Masse vor der Bühne und die an den Seiten wie veitstanzende Derwische umherwirbelnden Gestalten herablächelt. There's nothing like a Grateful Dead concert.

Seit 25 Jahren sind dies die großen Augenblicke im Leben eines Deadheads; wenn Band, Musik und Publikum zu einer Einheit verschmelzen, die sich in einem orgiastischen Höhepunkt auflöst, so wie bei den Stücken Cassidy und I Know You Rider beim Essener Konzert am letzten Mittwoch, oder bei Deal, Fire On The Mountain und Dark Star am Freitag und Samstag im spröden Internationalen Congreß Centrum (ICC) zu Berlin. Momente, die sich auf keiner Schallplatte einfangen lassen und in denen sich die Magie der Grateful- Dead-Shows manifestiert. Kein Auftritt ähnelt dem anderen, aus einem Fundus von fast zweihundert Stücken werden häufig erst auf der Bühne die Titel des Abends gewählt, die je nach Lust und Laune variiert oder mit ausgedehnten Improvisationen versehen werden. So entsteht jene „lockere Festigkeit“ (Garcia), die bei den Fans für stete Spannung sorgt und jedes Konzert zum ganz speziellen Erlebnis auch für die Dead-Maniacs werden läßt, die sich schon einige Hundert davon einverleibt haben. Und das sind nicht wenige.

„Wir sind wie Lakritz“, sagt Jerry Garcia, „entweder man mag uns, oder man mag uns nicht. Aber wer uns mag, der mag uns richtig.“ Etwa 80.000 Lakritzverehrer sind als Deadheads registriert, aber die Dunkelziffer ist erheblich. Niemand in der Musikgeschichte, nicht Stones, nicht Sinatra, nicht Orpheus, ist von mehr Menschen gesehen worden als die auftrittsfreudigen Grateful Dead. Wenn deren Sommertour anbricht, kramen Frauen, die längst einem seriösen Beruf nachgehen, oder in Ehren ergraute Familienväter die Hippie-Klamotten heraus und schließen sich, ergänzt durch die neue, blutjunge Generation von Deadheads, die im Gefolge der höchst erfolgreichen In The Dark-LP von 1987 entstanden ist, dem „Grateful-Dead-Wanderzirkus“ (Garcia) quer durch die Vereinigten Staaten an.

Gerade in einer Ära des rapiden Verfalls ganzer Gesellschaftssysteme, des Zusammenbruchs liebgewordener Ideologien und des vorläufigen weltweiten Triumphes utilitaristischer Raubtiermoral braucht der Mensch einen Fixpunkt. Warum nicht Grateful Dead? Unerschütterlich widersteht die Band den Zeitläufen, bleibt sich treu, wo alle anderen ihre Fähnchen emsig nach wechselnden Winden hängen. Bereits 1978 nannten die Dead einen Sampler What A Long Strange Trip It's Been, doch der Trip ging immer weiter, und heute sprüht die Gruppe noch genauso vor Vitalität wie bei ihrem Debüt vor 25 Jahren, sieht man einmal von den Keyboardern ab, deren jüngster, Brent Mydland, im Juni dieses Jahres seinen Vorgängern Pigpen und Keith Godchaux in die ewigen Jagdgründe folgte. Der 37jährige übernahm sich mit einem „Speedball“, einer Mischung aus Kokain und Heroin.

Für ihre Fangemeinde sind die Grateful Dead der Garant, daß die Erinnerung an die goldene Flower- power-Zeit, als die Welt schlecht war, die Stimmung aber glänzend, nie verblaßt. Sie scheinen immun gegen Yuppietum und Glamour, bleiben unbeeindruckt von politischen Veränderungen und retteten den Optimismus von 1967, daß bald alles gut werden würde, selbst in die Zeiten des „Idioten Reagan“ und des „Dummkopfs Bush“ (Garcia) hinüber. Nach eigener Definition unpolitisch und notorisch anachronistisch, waren sie in ihrer Praxis oft von nachhaltigerer Wirkung als manches radikale Großmaul, das inzwischen längst auf den Schnellzug ins Establishment aufgesprungen ist. Zuerst als Hausband der „Merry Pranksters“ um Ken Kesey bei deren Acid-Tests, dann als Avantgardisten der San-Francisco-Szene mit ihren Marihuana-Wolken, Großfamilien und Freikonzerten, heute als aufrechte Kämpfer für den tropischen Regenwald, in dessem Interesse sie schon bei den Vereinten Nationen vorstellig wurden.

Drogen sind mittlerweile aus dem Hausgebrauch der Protagonisten der Gruppe verschwunden. Für Bob Weir gehören sie nicht mehr zur „Idee des Gutdraufseins“, und der 48jährige Jerry Garcia, der schon in jungen Jahren aussah wie der gütige Großvater aus dem Märchenbuch, mußte 1985 eine Entziehungskur absolvieren, nachdem er in seinem Auto beim Rauchen eines harmlosen Joints, aber in Gesellschaft einer gehörigen Menge Heroins ertappt und verhaftet worden war. Ironischerweise folgte sein Kollaps ein Jahr später, als er in ein mehrtägiges diabetisches Koma fiel, für einige Zeit sämtlicher motorischer Fähigkeiten verlustig ging und wieder mühsam lernen mußte, Gitarre zu spielen. „Das war schon übel“, meinte er später, „daß ich ausgerechnet zusammenklappte, nachdem ich clean geworden war. Aber wenigstens bin ich nicht gestorben, und jetzt ist wieder alles okay.“

Bei den Besuchern der Konzerte ist eine vergleichbare Abstinenz nicht festzustellen, wiewohl auch hier der Drogenkonsum nachgelassen hat. Reichte früher bereits das Einatmen der Luft im Saal, um high zu werden wie ein kongolesischer Berggorilla, ziehen die duftenden Schwaden inzwischen nur noch sporadisch vorbei. Dennoch gibt es wegen der Drogenhändler, die den Grateful Dead in den USA nachreisen, für die Band erhebliche Schwierigkeiten. Viele Städte erteilten deshalb Auftrittsverbote. Hinzu kommt, daß die Konzerte, obwohl sie meist in riesigen Stadien mit einem Fassungsvermögen von bis zu 80.000 Zuschauern stattfinden, stets ausverkauft sind. Besonders bei mehrtägigen Gastspielen werden die Städte von einem Heer von langhaarigen Individuen überschwemmt, die öffentliche Plätze in Zeltlager verwandeln und durch ihr inzwischen höchst ungewohntes Outfit die braven Bürger in Angst und Schrecken versetzen.

Da Jerry Garcias Traum, einen festen Spielort, „so wie für Wagner in Bayreuth“, einzurichten, noch nicht verwirklicht ist, versuchen die Dead inwischen in den Staaten, den Andrang durch kurzfristig angekündigte Auftritte in kleineren Arenen oder unter Pseudonymen zu bremsen und verteilen Benimmregeln an ihre Fans. „Jedes Publikum bei einem Footballspiel ist wilder“, sagt Garcia, „aber wir müssen ihnen eben sagen: Schaut, die Leute haben Angst vor euch. Also, räumt auf, benehmt euch, parkt am Stadtrand.“

Es ist kein Wunder, daß Band und Deadheads unter diesen Umständen den Trip nach Europa besonders genießen. Hier können die Fans die Musiker in kleinen Hallen mal wieder aus der Nähe sehen, begegnen dafür allerdings einigen bislang ungekannten Widrigkeiten. Im Berliner ICC („Oh my, it looks like a station“) zum Beispiel „No Smoking“- Schildern und vor allem einer hier beheimateten, äußerst seltsamen menschlichen Spezies: beschlipste Ordner, die mit beharrlichem gesamtdeutschen Diensteifer versuchten, die Leute zum Stillsitzen anzuhalten, völlig undenkbar bei einem Grateful-Dead-Konzert und daher zum Scheitern verurteilt. Eine Truppe Deadheads aufzuhalten ist schwerer als eine Stampede texanischer Longhornrinder zu bremsen. Kaum war der erste Ton erklungen, saß keiner mehr auf seinem Stuhl und die Bühne war dicht umlagert. Vertraute Probleme für Grateful Dead nun auch in Europa. Ins honette ICC wird man sie wohl künftig nicht mehr reinlassen.

Die weiteren Konzerttermine: Hamburg (24.10.), Paris (27.10.), London (30., 31.10.).

Neue Platte: Without A Net (Live- Dreifachalbum, Arista)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen